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GdL-1949-10 Die göttliche Idee vom Menschen und der Gemeinschaft
Aus: Oktoberbrief 1949

Wer ein sicheres Urteil über Wirklichkeit und Art einer Zeitenwende gewinnen will, darf nicht dem blinden Gefühl folgen oder der Suggestion der öffentlichen Meinung zum Opfer fallen. Er muss sich nach zuverlässigen Merkmalen umsehen. Sie sind, wie dem Sachkundigen sofort einleuchtet, im Raume der Geschichte selbst zu suchen und zu finden. Änderungen an einem Lebensgebilde kann nur zuverlässig feststellen und richtig deuten, wer dessen Struktur genauer kennt, wer ihren gottgeprägten Sinn tief erfasst hat. Das gilt auch von der Geschichte. Deshalb müssen wir erst ihren Sinn kennenlernen. Dann sind wir fähig, ihre Wandlungen zu bewerten sowie Möglichkeiten und Merkmale einer Wende herauszustellen.

Weil der Wagen der Weltgeschichte heute so stark ins Wanken geraten ist und die schwersten Probleme aufreißt, gibt es kaum ein Thema, das so häufig von hoch und niedrig, von gelehrt und ungelehrt direkt oder indirekt behandelt wird, aber auch keines, an dem die Geister sich so stark scheiden. Alles fragt und forscht nach dem Sinn der Weltgeschichte. Dort geschieht es am nachdrücklichsten, wo sie Zentnerlasten auf schwache Schultern geladen hat und natürliches Denken überall Sinnlosigkeiten wahrnimmt... Wir stehen mit beiden Füßen auf dem Boden der Offenbarung, vertreten und verteidigen die theistische Lebens und Geschichtsauffassung. Für uns ist der Vorsehungsglaube zur Weltanschauung geworden. Darum gehen wir mit Vorliebe seinen Gedankengängen nach und wenden sie praktisch auf Leben und Geschichte an. Das wollen wir auch dieses Mal tun. Aus Zeitmangel lassen wir andersgeartete Lösungsversuche beiseite, so reizvoll ihre Darlegung, so lehrreich ihre Gegenüberstellung zur Vertiefung des Zeitverständnisses im Lichte des praktischen Vorsehungsglaubens auch sein dürfte. Die theistische Auffassung lässt sich am einfachsten auf die Formel bringen: Der Sinn der Weltgeschichte ist die planmäßige, schrittweise Entfaltung der göttlichen Idee vom Menschen.

Sie selbst und ihre Verwirklichung ist göttlich dem Ursprung, dem Inhalt und der Zielsetzung nach. Das will zunächst besagen: Gottes Allmacht, Weisheit und Liebe hat sie ersonnen; er fügt und lenkt alles Geschehen so, dass es bis in alle Einzelheiten ihrer Verwirklichung dient. Mit Recht kann man deshalb die Weltgeschichte den vorzüglichsten Kommentar zur göttlichen Menschenidee nennen, der ihrer Fülle und Reichhaltigkeit am vollkommensten Rechnung trägt. Dante lässt den forschenden Geist vor dem Höllentor die vielsagende Inschrift erblicken: „Fecime la divina Potestate la somma Sapienza e il primo Amore.“1

Dasselbe Wort steht über der Menschenidee, über jedem konkreten Menschenleben und jeglichem individuellen Menschenschicksal, ob es sich dabei um kleinste Einzelheiten oder um das Gesamtgefüge handelt. Alle Ereignisse – ohne Ausnahme – tragen diesen dreifachen Stempel an der Stirn. Gott ist der meisterhafte Tennisspieler, der alle Bälle, von wem sie auch immer unmittelbar geworfen werden und wie ungeschickt es auch immer geschehen sein mag, aufzufangen und planmäßig zu dem von Ewigkeit vorgesehenen Ziele zu lenken versteht.

Das theologische Axiom: Opera Dei ad extra sunt communia2 macht uns darauf aufmerksam, dass die Menschenidee und ihre Verwirklichung durch das Weltgeschehen ein Werk der Dreifaltigkeit ist. Wird dem Vater die Allmacht, dem Sohne die Weisheit, dem Heiligen Geiste die Liebe zugeschrieben, so geschieht das nur per appropriationem: durch besondere Zueignung. Unter dem Einfluss des Neuen Testamentes fällt darum helles Licht auf den Schöpfungsbericht. Wenn er erzählt: Gott sprach: „Lasset uns den Menschen machen...“3, so wird es uns nicht schwer, das Wort „uns“ auf die allerheiligste Dreifaltigkeit auszudeuten.

Der Bericht fährt fort: „Nach unserem Bilde und Gleichnisse lasst uns ihn machen...“ Das gibt uns in treffender Weise den Inhalt der Menschenidee wieder: Der Mensch ist ein Abbild der allerheiligsten Dreifaltigkeit. Wird dem Vater die Allmacht zugeeignet, so darf man alle Akte der göttlichen Allmacht in Welt und Leben auf ihn zurückführen. Dasselbe gilt sinngemäß von der Weisheit und ihrer Beziehung zum Sohne, es gilt von der Liebe und ihrem Verhältnis zum Heiligen Geiste. So ist der Mensch nicht nur Werk, sondern auch Abbild des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Er ist Werk und natürliches sowie übernatürliches Abbild der allerheiligsten Dreifaltigkeit: der göttlichen Schöpfermacht des Vaters, der Weisheit des Sohnes und der Liebe des Heiligen Geistes.

Die natürliche Ebenbildlichkeit lässt uns den Menschen als göttliches Meisterwerk in der Schöpfungsordnung erblicken. Die übernatürliche Bildhaftigkeit weist auf die Herrlichkeit der Gnadenordnung hin, wie sie in der Erlösung durch Christus und in der Heiligung und Einigung durch den Heiligen Geist konkrete Form angenommen hat.

Von diesem Standpunkt aus lässt sich als Sinn des Weltgeschehens planmäßige, stufenweise Entwicklung der Menschwerdung, der Christus und der Gliedwerdung im Organismus des Gottesreiches bezeichnen. Nimmt man Menschen- und Christuswerdung als eine in sich geschlossene Ganzheit in Natur und Gnadenordnung, so versteht man darunter schlechthin das christliche Menschenbild und unter Gliedwerdung die Einbeziehung, die Einbürgerung in das Reich Gottes oder das gottgeprägte Gemeinschaftsbild. Danach ist der Sinn des Weltgeschehens die planmäßige, stufenweise Entfaltung des christlichen Menschen und Gemeinschaftsbildes.

Die natürliche Seite des Menschenbildes ist im Schöpfungsvorgang treffend gekennzeichnet: "Gott, der Herr, schuf den Menschen aus dem Ton der Erde und hauchte in sein Antlitz den Atem des Lebens, und der Mensch ward zum Lebewesen."4 Unter Atem des Lebens versteht die Heilige Schrift den Geist, das Abbild des Geistes Gottes. Die entgegengesetzten Elemente Stoff und Geist sind füglich im Menschen zu einer substantiellen Einheit verbunden, die trotz unlösbar seinsgemäßer Verbundenheit ihre arteigenen Fähigkeiten und Tendenzen beibehalten. Stoff will sich zum Stoff gesellen und sich an seinem Gesetz orientieren. Geist drängt zum Geiste und will sich nach seiner Eigenart entfalten. So wird der Mensch zum größten Wagnis Gottes. Das menschliche Leben vollzieht sich in ständiger Spannung, vielfach in vollendeter Polarität zwischen Stoff und Geist, zwischen der Gebundenheit des Stoffes und der Freiheit des Geistes, zwischen Tier und Engel.

Gott und Mensch teilen sich in dieselbe Aufgabe. Sie ringen um die Herrschaft des Geistes über die Materie, um den Sieg des Engels über das Tier im Menschen. Schwierig ist das gemeinsame Werk, weil beide Elemente, Stoff und Geist, sich eigenständig entfalten, weil sie ihre Eigengesetzlichkeit in vollendeter Unabhängigkeit voneinander in schroffer Gegensätzlichkeit aktualisieren wollen.

Der Mensch ist seiner Seinsstruktur nach animal oeconomicum, hedonicum, vitale. Das heißt: er ist den stofflichen Werten, den wirtschartlichen Gütern, den sinnlichen Genüssen und den urtümlichen Lebenskräften wie Gesundheit, Spontaneität und Frische verhaftet. Man nennt ihn mit Recht animal philosophicum (metaphysicum), ethicum, aestheticum et religiosum. Das heißt: er ist den geistigen Werten, der Wahrheit, dem Guten, Schönen und dem Heiligen, verpflichtet. Er ist in der natürlichen Ordnung an alle diese Werte gebunden. Jede einzelne Wertempfänglichkeit lässt ähnlich wie die Güter selbst ungezählt viele Spielarten zu, die durch Lebens und Naturverhältnisse, die vor allem durch das Milieu wesentlich mitbestimmt werden.

Jede typische Haltung den stofflichen, geistigen und religiösen Gütern gegenüber kann einen originellen, individuellen und gemeinsamen Menschentyp schaffen und damit das Menschenbild einer Zeit prägen und bestimmen. Der mittelalterliche Mensch war außerordentlich stark theozentrisch eingestellt. Der ihn ablösende Renaissancemensch kreist hauptsächlich um die eigene Achse. Er repräsentiert sich, je nachdem einzelne Werte im Vordergrund stehen oder allein das Feld beherrschen, bald als hedonischer oder ökonomischer oder vitalistischer, bald als intellektueller oder ästhetischer oder ethischer Mensch und bestimmt in gleicher Weise jeweils die von ihm beherrschte Zeit.

Will man seinen Verstand vor häretischen, will man Wille und Herz vor revolutionären Anwandlungen bewahren, so muss man zwei Linien unentwegt festhalten und sich daran orientieren. Die eine führt rückwärts in die Vergangenheit, die andere aufwärts nach oben zu Gott hin. Ist die Geschichte einem Strome vergleichbar, so darf die Gegenwart nie von der Vergangenheit getrennt werden, genauso wenig, wie man eine Frucht trennen darf vom Stengel und von der Wurzel. Die Vergangenheit bleibt auch dann ein geschichtsbildender Faktor, wenn Gegenwart und Zukunft sich davon losmachen möchten. Das ist der Fall bei den Menschenbildern in Ost und West, die heute hauptsächlich Geschichte machen. Sie lehnen die innere Beziehung zur Vergangenheit einfach ab und gehen deswegen allesamt in die Irre.

Die zweite Linie führt aufwärts zu Gott. Jedes Menschenbild muss sich an Plan und Idee Gottes orientieren. Gott ist und bleibt in allem das Maß der Dinge, ob er sich durch übernatürliche Offenbarung oder innere Antriebe, ob er sich durch die Seinsstruktur von Menschen und Dingen oder durch die Geschichte verständlich macht. Wird dieser Maßstab verkannt und außer acht gelassen, so ist die Folge Abgötterei. Wer sich nicht beugt vor Gott, betet ein selbstgeschnitztes Götzenbild an. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob der Götze Staat oder Klasse, Fleisch oder Rasse, Genuss oder Geist, Sittlichkeit oder soziale Einstellung heißt. So wird die Geschichte tatsächlich zum allseitigen Kommentar des Schöpfungswortes: „Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis.“

Es darf nicht wundernehmen, dass die Menschenidee sich nur stufen oder schrittweise entfaltet. Der Grund dafür ist ein doppelter: Der eine liegt in der originellen Seinsweise des Menschen, der andere in der ungeheuren Lebensfülle, die die Menschenidee in sich birgt.

Gottes Daseinsform ist die Ewigkeit. Das heißt: Gott ist immer und überall gleichzeitig ganz und in vollendeter Fülle das, was und wie er ist. Er kennt kein Nacheinander, sondern nur ein einziges großes gleichzeitiges Miteinander. Er nennt sich deshalb schlechthin den Seienden: „Ich bin, der ich bin.“5 Der Philosoph definiert die Ewigkeit: Interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio. Das heißt: gleichzeitig ganzheitlicher und vollkommener Besitz des grenzenlosen Lebens.

Des Menschen Daseinsform ist die Zeit: das geschichtliche Nacheinander in Entfaltung der grundgelegten Keime des Seins und der Vollkommenheit. Die Zeit ist kein leeres Strombett, das die Wasser der Geschehnisse aufnimmt, sie ist kein leerer Faden, an dem man willkürliche Erlebnisse auffädeln kann; sie ist lediglich dieses geschichtliche Nacheinander. Wenn die Heilige Schrift so viel Gewicht auf Zeitangabe in der Genesis legt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde...“ „Und es ward Abend und Morgen...“,6 so will sie nachdrücklich hinweisen auf diese stufenweise Entwicklung und Entfaltung im Menschen und durch den Menschen. Was sie so durch Taten zum Ausdruck bringt, prägt sie nochmals eigens ein durch den Schöpfungsbefehl: „Wachset und mehret euch und erfüllt die Erde und macht sie euch untertan.“7 Wachset! Entfaltet in euch alle keimhaften Anlagen in geschichtlichem Nacheinander bis zur vollen Ausreifung und Vollendung und harmonischen Ausgeglichenheit. Mehret euch und erfüllet die Erde! Nehmt die ganze Erde durch stetige Vermehrung des Menschengeschlechtes in Besitz. Machet sie euch untertan: Übt euer Herrscherrecht aus über alle Kräfte der Natur und macht sie euch dienstpflichtig durch Technik und Industrie, durch Ackerbau und Viehzucht. Sorgt aber auch gleichzeitig dafür, dass ihr nicht Sklaven der seelenlosen Kreatur werdet.

Diese originelle Seinsform kennt deshalb in besonderer Weise ein geschichtliches Nacheinander, weil die Idee des Menschseins bis zum Überfließen mit Inhalt geladen ist. Nicht mit Unrecht nennt man den Menschen einen Mikrokosmos, eine Welt im Kleinen. Man sagt von ihm aus: est quodammodo omnia...8 Alle geschaffenen Seinsstufen haben in ihm einen Ableger, eine Verkörperung gefunden: das Mineralreich, das Pflanzen und Tierreich und die Engelwelt. Dadurch, dass jede niedrige Seinsstufe sich der höheren beugt, nimmt sie jeweils teil an deren Vollkommenheit.

Das Bild vom Menschen, das die Geschichte entwirft, ist vergleichbar einem umfangreichen Bilderbuch. Die meisten Menschen sehen und verstehen nur die eine Seite, die sie selber oder ihre Zeitgenossen darstellen. Höchstens mag ihnen das vorhergehende Blatt noch zugänglich sein. Nur wenigen ist es gegeben, das ganze Bilderbuch durchzublättern und in sich aufzunehmen, nicht nur die zeitgenössische Darstellung, sondern auch die früheren aus allen Jahrhunderten, und sich so vor Einseitigkeit und Verabsolutierung einzelner Lieblingsbilder zu hüten und sich vor Gottes unendlicher Lebensfülle und endloser Vielgestaltigkeit der Nachahmbarkeit demütig zu beugen.

Fortsetzung

1 Mich schuf Gottes Allmacht, seine höchste Weisheit und einzigartige Liebe.

2 Die Tätigkeiten Gottes nach außen sind (den drei Personen) gemeinsam.

3 Gen 1,26.

4 Vgl. Gen 2,7.

5 Gen 3,14.

6 Gen 1,1 ff.

7 Gen 1,28.

8 Gewissermaßen alles.

9 Vgl. Gen 3,15.

10 Wie Samen ausgestreuter Logos.

11 Vgl. Kol 1,24.

12 Ein soziales Wesen.

13 Gen 2,18.

14 Gemeinschaft der Sünder. Gemeinschaft der Heiligen.

15 Vgl. Mt 4,17.

16 Mt 6,10 und Lk 11,2.

17 Zelt Gottes bei den Menschen (Apok 21,3).

18 Phil 3,20.

19 Vgl. Mt 22,2 ff.

20 Die Liebe Gottes ist ausgegossen in eure Herzen durch den Heiligen Geist, der euch gegeben ist (Röm 5,5).

Aus:
Pater Josef Kentenich:
Oktoberbrief 1949,
Ein Beitrag zum christlichen Auftrag: Neuer Mensch
Schönstatt-Verlag, Hillscheider Str. 1, 56179 Vallendar
ISBN: 978-3-920849-01-0
S. 41-60

Zum Online-Angebot des Verlags

 

Eingestellt von
O B
KM
Eingestellt am: 08.12.2010 10:05
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