3 BEDEUTUNG DER SEELISCHEN BEHEIMATUNG IM LEBEN UND WIRKEN JOSEPH KENTENICHS
3.1 Ein leidvoller einsamer Weg zur Priesterweihe
Joseph Kentenich wurde am 16. November 1885 im Haus seiner Großeltern in Gymnich bei Köln geboren. Er war ein uneheliches Kind, was in der damaligen Zeit als große Schande für die Mutter galt. Für Joseph war diese Tatsache mit vielen Hindernissen in seinem Werdegang verbunden. Er hätte wegen seiner Herkunft kein Weltpriester werden können. Sein Leben lang äußerte er sich nie öffentlich zu den Umständen seiner Geburt. Ob jemals eine persönliche Begegnung zwischen ihm und seinem Vater stattfand, ist nirgendwo belegt.
Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte Joseph im Haus seiner Großeltern mütterlicherseits in seinem Heimatort. Dort fühlte er sich „zu Hause“ und geborgen. Er wuchs gemeinsam mit seiner Cousine Henriette Esser auf. Weil seine Mutter in dieser Zeit keine feste Anstellung hatte, konnte sie selber für ihn und Henriette sorgen. Sowohl sie als auch die Großmutter waren tief religiöse Frauen, deren Leben aus dem christlichen Glauben die frühkindliche religiöse Erfahrung des kleinen Joseph prägte.
Das Jahr 1894 ist mit einem großen Einschnitt im Leben Kentenichs verbunden. Wegen des hohen Alters der Großmutter muss sich die junge Mutter um den Unterhalt der ganzen Familie kümmern. Sie bekommt eine feste Anstellung als Köchin in einer wohlhabenden Familie, bei der sie jedoch den ganzen Tag arbeiten muss. Zur gleichen Zeit befindet sich die schulische Ausbildung in Gymnich in einem sehr schlechten Zustand, was Josephs Mutter noch mehr Sorgen um ihren begabten Sohn und seine Zukunft bereitet. Sie wendet sich in ihrer Not an ihren Beichtvater Pfarrer August Savels, der ihr anbietet, Joseph in das von ihm gegründete Waisenhaus St. Vinzenz in Oberhausen aufzunehmen, wo er auch eine gute Schulausbildung bekommen sollte. Katharina fällt es „ungemein schwer, ihr einziges Kind herzugeben“, aber sie findet keine andere Lösung und bringt schließlich Joseph am 12. April 1894 ins Waisenhaus in eine unbekannte Industriestadt, weit entfernt von seinem heimatlichen Dorf. Vor dem Abschied besucht sie mit ihm die dortige Hauskapelle und vor der Marienstatue vertraut sie Joseph in einem Weiheakt dem besonderen Schutz der Gottesmutter an. Maria soll von diesem Augenblick die mütterliche und erzieherische Aufgabe für Joseph übernehmen. „Allen Selbstzeugnissen zufolge stellt diese Marienweihe […] ein Schlüsselereignis dar, das einen tiefen, nachhaltigen Eindruck in der Seele hinterließ und J. Kentenich sein Leben lang beschäftigte.“ Dieses Kernerlebnis und die damit verbundenen späteren Erfahrungen seines jungen Lebens werden für Kentenich zur Grundlage, sowohl für seine eigene religiöse Bindung und religiöse Beheimatung als auch für die Entfaltung seiner Pädagogik der Bindung. Die tiefgreifende religiöse Erfahrung kann jedoch die schmerzhafte Trennung von seiner Familie und seinem Heimatort nicht auslöschen. Seine innere Sehnsucht nach Freiheit und Eigenständigkeit, die sich später in seinem pädagogischen Wirken niederschlägt, macht ihm das Leben in der auf Disziplin ausgerichteten Anstalt noch schwieriger. Jedoch findet er Halt im Lernen, im Schreiben von Gedichten und vor allem im Gebet. In dieser Zeit wächst seine Sehnsucht, Priester zu werden. Aufgrund seiner unehelichen Herkunft und schwierigen finanziellen Situation sind seine Möglichkeiten sehr begrenzt. Auf Ratschlag von Pfarrer Savels meldet er sich bei der damals in Deutschland noch unbekannten Missionsgesellschaft der Pallottiner und wird 1899 in ihr Jungeninternat in Koblenz-Ehrenbreitstein aufgenommen.
Am Pallottiner Gymnasium kann Joseph seine intellektuellen Fähigkeiten entfalten. Weiterhin widmet er sich dem Schreiben von Gedichten und auch Theaterstücken. Sie offenbaren etwas von seiner inneren Entwicklung. Im Gedicht „Heimatlos“ reflektiert er die leidvollen Erfahrungen seiner Kindheit, vor allem die Ablehnung durch seinen Vater und die schmerzliche Trennung von der Mutter nach dem Eintritt ins Waisenhaus. Er drückt darin seine unerfüllte Sehnsucht „nach elterlicher Geborgenheit, die ihm früh entzogen wurde“, aus. In der Abschlussphase seines Aufenthalts am Pallottinerkolleg in Ehrenbreitstein wird seine Erfahrung äußerer und innerer Einsamkeit intensiviert. Seine Lehrer und Mitschüler beschreiben Joseph als einen zwar hochbegabten, aber auch eingebildeten und in sich geschlossenen Schüler.
Am 24. September 1904 tritt J. Kentenich in das Noviziat der Pallottiner in Limburg an der Lahn ein. Im zweiten Noviziatsjahr beginnt er das Studium der Philosophie und Theologie, das er ungefähr ein Jahr nach seiner Priesterweihe (Sommer des Jahres 1910) abschließt. Die Ausbildung im Noviziat ist durch strenge erzieherische Instruktionen der damaligen Zeit geprägt. Kentenich findet in seinem Novizenmeister, der durch Enge und Ängstlichkeit charakterisiert wird, keinen Ansprechpartner. Die schon vorhandene menschliche Einsamkeit und die nun dazu kommenden äußeren Schwierigkeiten und Spannungen verursachen bei ihm schwere innere Kämpfe, die sich auf die gesamte Ausbildungszeit ausdehnen. Seine „außergewöhnlich starke und frühzeitige transzendentale Grundeinstellung“ und zugleich sein kritisches Suchen nach Wahrheit verstärken seine geistige Not und seine Glaubenszweifel. Im theologischen Studium, das sich damals, geprägt durch scholastische Lehre, oft auf apologetisch ausgerichtete Reaktionen gegen neuzeitliches kritisches Denken konzentrierte, findet Kentenich keinen Halt. Mit seinen Fragen, die sich vor allem um die Erkennbarkeit der Wahrheit drehen, bereitet er seinen Dozenten enorme Schwierigkeiten und wird von ihnen aus diesem Grund oft missverstanden und als ein unbequemer „Fremder“ zurückgewiesen. Sein Zug zum Individualismus und zur Einsamkeit wird dadurch noch verstärkt. Er selber schreibt später im Hinblick auf seine Jugendkämpfe (wie er sie selbst nannte):
„Rückblickend auf meine gesamte Vergangenheit muss ich gestehen: wo es sich um Menschen handelt, um Lehrer und Erzieher jeglicher Art, könnte ich bei sorgfältigster Gewissenserforschung niemand […] mit Namen nennen, der nennenswerten Einfluss auf meine geistige und seelische Entwicklung ausgeübt hat.“
Sein Wahrheitsdrang, den er nirgendwo stillen kann, wirkt sich durch einen großen Skeptizismus und einen gewissen psychischen Zwang aus. Seine Selbstaussage macht es deutlich: „Der mit den skeptischen Anfällen der Reifejahre verbundene Kampf auf Leben und Tod um meine geistige Existenz nahm mit der Zeit eine Art Zwangsnot an, die Leib und Seele bis ins Mark erschütterte, schließlich aber doch siegreich überwunden wurde.“
Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit darf zusammenfassend festgehalten werden, dass J. Kentenich im jungen Erwachsenenleben unter zugleich rationaler, emotionaler und religiöser „Ungeborgenheit“ ganz stark gelitten hatte. Er schildert diesen Zustand folgendermaßen:
„Als Typ des modernen Menschen durfte ich dessen geistige Not reichlich auskosten. Es ist die Not einer mechanistischen Geistigkeit, die die Idee vom Leben (Idealismus), die die Person vom personalen Gegenüber (Individualismus) und das Übernatürliche von der natürlichen Ordnung trennt (Supernaturalismus).“
Im Zusammenhang mit seinen geistig-seelischen Kämpfen verschlechterte sich auch seine physische Gesundheit. Es wurden bei ihm Symptome einer Tuberkuloseerkrankung festgestellt. Im Jahr 1907 musste er für mehrere Monate sein Studium aussetzen und eine längere Kur machen. Nach dem zweiten Studienjahr stand wegen seiner Erkrankung die Erneuerung der zeitlichen Profess in Frage. Bis Ende der zwanziger Jahre hielt seine körperliche Anfälligkeit an. Trotz seiner Einschränkung konnte er während dieser Zeitperiode eine neue geistliche Bewegung innerhalb der katholischen Kirche gründen und zu ihrer Entfaltung verhelfen. Seine körperlichen Leiden nahmen – im Zusammenhang mit der vollen „Gesundung des eigenen Seelenlebens“ – allmählich ab. Nun stellt sich die Frage: Welche waren die Heilmittel, die Joseph Kentenich geholfen hatten, seine geistig-seelischen Kämpfe zu überstehen und sie sogar für seine Lebensaufgabe fruchtbar zu machen?
Seiner Selbstaussage zufolge ist es die Liebe zur Mutter Gottes, die ihm einen gewissen Halt in seinen Jugendkämpfen gibt und Glaubenssicherheit vermittelt: „Die Seele wurde während dieser Jahre einigermaßen in Gleichgewicht gehalten durch eine persönliche, tiefe Marienliebe.“ Das Kernerlebnis der Marienweihe aus seiner Kindheit führt zum Wachstum seiner Bindung an die Person der Gottesmutter und diese emotional geprägte Bindung „verleiht ihm unterbewusst ein seelisches Gleichgewicht“, das ihm durch den Verstand in seiner geistigen Not nicht ermöglicht wurde. Die in seinem Inneren tief verankerte Liebe zu Maria lässt seine Hingabe an den Willen Gottes und sein kindliches Vertrauen Gott gegenüber wachsen. Später bezieht er sich auf diesen Vorgang mit folgenden Worten:
„Der liebe Gott hat so viel geistige Ungewissheit gelassen, damit wir durch den Heroismus einer kindlichen Liebe den Weg durch das oft pechschwarze Dunkel der Welt und des Lebens finden. ‚Das Größte aber ist die Liebe‘ (1 Kor 13,13) – je weniger Geistessicherheit, desto mehr muss die Liebe, der Wille sich mit aller Inbrunst an Gott binden.“
Durch die aus Liebe vollzogene Hingabe an Gott und die Gottesmutter konnte J. Kentenich seinen seelischen Zwang nach und nach lösen und seine skeptische Haltung allmählich überwinden. Er lernt sich ganz „in die Hände Gottes fallen zu lassen“ und gelangt dadurch zur inneren Freiheit. In dieser Perspektive einer kindlichen Hingabe an den Willen Gottes lassen sich viele Ereignisse und damit verbundene Entscheidungen in seinem Leben nachvollziehen. Eine solche Situation spielt sich z.B. im Jahr 1909 ab, als Kentenich erfährt, dass er vom Provinzrat zur ewigen Profess (und damit auch zur Priesterweihe) nicht zugelassen wurde. Er betrachtet diese Entscheidung schlicht als „Gottes Fügung“. Später gelingt es Pater Michael Kolb, der hinter Joseph steht und selber Mitglied des Provinzrates ist, eine neue Ratssitzung einzuberufen und eines der Provinzratsmitglieder zu überzeugen, dass er sein Votum ändert. So wird Kentenich durch eine knappe Stimmenmehrheit zur ewigen Profess zugelassen, jedoch unter der Bedingung, dass er in Zukunft an keiner Universität studieren darf. Am 8. Juli 1910 empfängt er in Limburg die Priesterweihe. Das Gebet, das er als Primizspruch wählt, drückt seine große Sehnsucht aus, die ihn während seiner jahrelangen geistig-seelischen Kämpfe nicht ruhen ließ und die zur Triebkraft seines priesterlichen Wirkens wurde: „Verleihe, o mein Gott, dass alle Geister in der Wahrheit und alle Herzen in der Liebe sich einigen.“
Aufgrund seiner schwachen Gesundheit wird der Neupriester Joseph Kentenich nicht in die Mission nach Kamerun geschickt, sondern als Latein- und Deutschlehrer am Pallottinerkolleg in Ehrenbreitstein eingesetzt. Die neue pädagogische Aufgabe, die durch einen regelmäßigen Kontakt mit seinen Schülern geprägt ist, weckt in ihm seelische Kräfte, die bis dahin verborgen waren, und hilft ihm zur Entfaltung der eigenen Anlagen und Fähigkeiten:
„Nach Abschluss der Studien tauchte der Geist kraft der neuen Aufgabe als Lehrer und Erzieher tief in das Leben ein. Dem Psychologen dürfte es selbstverständlich erscheinen, dass meine außergewöhnlich starke transzendentale Grundeinstellung durch diese Verbindung mit dem Leben in all seinen Verzweigungen anfing, ein Gegengewicht zu finden […].“
Das Wachstum der positiven religiösen und personalen Bindungen, das heilende Wirkung auf das Seelenleben J. Kentenichs hatte, diente später als Grundlage für die Formulierung seiner Theorie vom „Bindungsorganismus“, dem Kernbegriff seiner Psychologie, Pädagogik und Seelsorge.
Wenn Kentenich später auf seine schmerzhafte geistige und seelische Entwicklung in jungen Jahren zurückblickt, entdeckt er den Sinn dieses leidvollen Weges im seelsorgerlichen Dienst für andere:
„Wenn ich […] sehe, wie viele Menschen heimatlos geworden, das würde in mir die elementare Kraft wecken, meine ganze Liebe den Menschen zur Verfügung zu stellen. Wenn ich Ihnen das als Selbstbekenntnis sagen darf: Das war eine der Triebkräfte mit, die mich zur Priesterweihe veranlasst haben: meine ganze Kraft den Menschen zur Verfügung zu stellen. Hominem non habeo, so ist es mir gegangen. Und deswegen der starke Grundsatz: das, was dir passiert, soll nach Möglichkeit keinem mehr geschehen, und daraus wächst die Kraft, einfach auf sich selbst zu verzichten. Innere Heimat wollen wir andern bieten, wenn unser eigenes Herz selbst nach Heimat schreit.“
3.2 Fruchtbarkeit des priesterlichen Lebens im Kontext der seelischen Beheimatung
Als Lehrer in Ehrenbreitstein erwarb sich J. Kentenich einen guten Ruf. Seine Vorgesetzten lernten seine pädagogischen Fähigkeiten schätzen. Im September 1912 wurde ein neues Studienheim der Pallottiner in Vallendar-Schönstatt eröffnet und Pater Adolf Panzer wurde dort zum Spiritual ernannt. Als er und sein Assistent nach nur 12 Tagen ihr neues Amt niederlegten, „fiel das Los“ auf J. Kentenich. Seine Hauptaufgabe war die Sorge um das geistliche Wohl der Schüler. Zugleich erwarteten die Vorgesetzten vom neuen Spiritual, „ein gesundes Vertrauensverhältnis zwischen den Lehrern und Obern einerseits und den Schülern andererseits herzustellen und die schäumenden Freiheitsgelüste und jugendlichen Kräfte von innen heraus für die hohen Berufsideale zu gewinnen“. Wie stellte sich Kentenich diesen Herausforderungen?
Bei seinem Antrittsvortrag vor den Schülern, am 27. Oktober 1912, stellt er einige Grundthesen seiner pädagogischen Konzeption vor, die er in den darauffolgenden Monaten weiter entfaltet. Dieser Vortrag wird später als „Vorgründungsurkunde“ der Schönstatt-Bewegung bekannt. In seinen Worten drückt Kentenich erneut seine Haltung der vollen Hingabe an den Willen Gottes und an die ihm Anvertrauten aus:
„Da kommt nun meine Ernennung zum Spiritual – ganz und gar ohne mein Zutun. Es muss also wohl so Gottes Wille sein. Darum füge ich mich, fest entschlossen, alle meine Pflichten euch allen und jedem einzelnen gegenüber aufs vollkommenste zu erfüllen. Ich stelle mich euch hiermit vollständig zur Verfügung mit allem, was ich bin und habe: mein Wissen und Nichtwissen, mein Können und Nichtkönnen, vor allem aber mein Herz.“
In einem Leitsatz weist Kentenich den Weg zur Verwirklichung seines pädagogischen Konzeptes: „Wir wollen lernen, uns unter dem Schutze Mariens selbst zu erziehen zu festen, freien priesterlichen Charakteren.“ Das Personalpronomen „wir“ bezieht er nicht nur auf die Schüler, sondern auch auf sich selbst. Selbsterziehung zu festen und innerlich freien Persönlichkeiten, die sich im dialogischen Lernprozess („wir wollen voneinander lernen“) und unter der Begleitung der Gottesmutter realisiert, sieht er als Aufgabe für das ganze Leben.
Durch seine pädagogischen Methoden gelingt es Kentenich, eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zwischen ihm und seinen Schülern aufzubauen. Er fördert die Eigeninitiative der Schüler und ihre Hochherzigkeit, die in der freien Selbstentscheidung aus Liebe wurzelt und weit über das Pflichtverständnis hinausreicht. Damit die Jungen seine pädagogischen Ideen konkret ins Leben umsetzen können, will er für sie einen freien Lebensraum schaffen, der außerhalb des schulischen Unterrichts, auf freiwilliger Basis, entstehen soll. Aus diesem Grund gründet er in den Weihnachtsferien 1912/13 mit einigen engagierten Schülern einen Missionsverein. Sein Ziel ist die Errichtung einer Marianischen Kongregation. Nachdem er dafür die Erlaubnis der Provinzleitung bekommen hat, kann am 19. April 1914 die Marianische Kongregation in Schönstatt gegründet werden.
Kentenich beobachtet, dass die gepflegte Marienverehrung in der Kongregation das Wachstum im geistlichen Leben der Sodalen fördert. Seine eigene Erfahrung aus der Kindheit wird durch die Erfahrung seiner Schüler bereichert. In den sog. „Maivorträgen“ entfaltet er deshalb das Thema „Belebung unserer Marienliebe“. Durch seine erzieherische Aufgabe für die Sodalen der Marianischen Kongregation wächst in ihm die Überzeugung, dass eine positive Bindung an die Person der Gottesmutter eine wichtige pädagogische Dimension hat und sich sowohl auf das geistliche Leben als auch auf die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen fruchtbar auswirkt. Paul Vautier unterstreicht die pädagogische Linie der ganzen marianischen Lehre Kentenichs: „Dass Maria Erzieherin ist, stellt den Zentral- und Kernpunkt seiner Mariologie dar.“
Kentenich entwickelt eine neue pädagogische Konzeption, die sich von den damals herrschenden Erziehungsmodellen einer Lehranstalt in vielen Punkten unterscheidet. Seine Methoden stoßen deshalb bald auf Kritik der anderen Lehrer und verursachen so manche Spannungen zwischen ihm und der Leitung des Studienheims. Auch für die neugegründete Marianische Kongregation haben einige der Pallottiner-Patres wenig Verständnis. In dieser Situation sucht Kentenich nach einem Versammlungsraum für die Sodalen, wo sie „ihr Engagement und ihre religiösen Gefühle frei ausdrücken“ können. Vom Provinzobern, Pater Michael Kolb, bekommt er die Erlaubnis, für die Versammlungen der Kongregation die alte Friedhofskapelle unterhalb des Studienheims zu nutzen. Das Kapellchen, das den Namen des heiligen Erzengels Michael trägt, muss zunächst komplett renoviert werden. Inzwischen bricht im Sommer 1914 der erste Weltkrieg aus und die Schüler werden nach Hause geschickt. Am 18. Oktober 1914 findet die erste Versammlung der Mitglieder und Kandidaten der Marianischen Kongregation in der neu renovierten Michaelskapelle statt. Bei dieser Gelegenheit hält der Spiritual einen Vortrag, dessen erster Teil später als „Erste Gründungsurkunde“ der Schönstatt-Bewegung bezeichnet wird. Zwei konträre Ereignisse der damaligen Zeit geben ihm wichtige Impulse für seine Gedanken: Die Entstehung des großen Marienwallfahrtsortes Valle di Pompei neben den Ruinen des antiken Pompeji und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zu Beginn des Vortrags drückt Kentenich sein Hauptanliegen mit folgenden Worten aus: „Programm: Beschleunigung der Entwicklung unserer Selbstheiligung und dadurch Umgestaltung unseres Kapellchens in ein Wallfahrtskapellchen.“ Anknüpfend an das neutestamentliche Zeugnis von der Verklärung Jesu stellt er den Sodalen schließlich die in seinem Inneren gewachsene Idee vor:
„Als Petrus die Herrlichkeit Gottes auf Tabor gesehen, rief er entzückt aus: Hier ist wohl sein. Lasset uns hier drei Hütten bauen. Dieses Wort kommt mir wieder und wieder in den Sinn. Und des Öfteren schon habe ich mich gefragt: Wäre es nun nicht möglich, dass unser Kongregationskapellchen zugleich unser Tabor würde, auf dem sich die Herrlichkeit Mariens offenbarte. Eine größere apostolische Tat könnten wir ohne Zweifel nicht vollbringen, ein kostbareres Erbe unseren Nachfolgern nicht zurücklassen, als wenn wir unsere Herrin und Gebieterin bewegen, hier in besonderer Weise ihren Thron aufzuschlagen, ihre Schätze auszuteilen und Wunder der Gnade zu wirken. Sie ahnen, worauf ich hinziele: Ich möchte diesen Ort gerne zu einem Wallfahrts-, zu einem Gnadenort machen für unser Haus und für die ganze deutsche Provinz, vielleicht noch darüber hinaus. Alle, die hierherkommen, um zu beten, sollen die Herrlichkeit Mariens erfahren und bekennen: Hier ist wohl sein.“
Kentenich glaubt daran, dass die Kongregationskapelle zu einem Wallfahrts- und Gnadenort werden kann, wenn die Sodalen sich mit der vorgetragenen Idee identifizieren. Ihre Liebe zu Maria, die sich im ernsten Streben nach Heiligkeit im alltäglichen Leben manifestiert, soll die Gottesmutter „dazu bewegen“, viele Gnaden Gottes an diesem Ort zu vermitteln. Die „Selbstheiligung“ soll weiterhin die mächtigste „Kriegswaffe“ der Sodalen sein. Im Kern geht es Kentenich um „die Verbindung von menschlicher Mitwirkung und dem Vertrauen auf die Offenheit der Mutter Jesu, zum Heil der Menschen, auch unter ganz konkreten Umständen, wirken zu wollen“. In einem Weiheakt an die Gottesmutter, den die Sodalen in ihrem Kongregationskapellchen schließen, stellen sie sich Gott und Maria in diesem Anliegen zur Verfügung. Die in diesem Sinne vollzogene Marienweihe (auch als Kontrakt, Vertrag, Bündnis genannt) soll zum konstitutiven Bestandteil des heiligen Ortes Schönstatt und später auch zum konstitutiven Kennzeichen der Mitglieder der Schönstatt-Bewegung werden. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs bekommt die Weihe die Bezeichnung „Liebesbündnis“. Dadurch wird der Charakter der gegenseitigen Liebesbeziehung zwischen den „Bündnispartnern“ (Mensch und Maria, Mensch und Gott) verstärkt. Der Gedanke, dass der Mensch im Bund mit Gott an der Heilsgeschichte schöpferisch mitwirkt, spielt im theologischen Ansatz Kentenichs eine zentrale Rolle. Dieser Aspekt wird in der sog. „Bundesspiritualität“ weiter entfaltet. Das Liebesbündnis soll dementsprechend eine konkrete Form des Bundes Gottes mit den Menschen sein. Es zielt auf die Vertiefung des in der Taufe geschlossenen Bundes zwischen Mensch und Gott hin.
Das äußerlich unscheinbare Ereignis vom 18.10.1914 gilt als Gründungsdatum der heute weltweiten apostolischen Bewegung von Schönstatt. Die kleine Michaelskapelle (in der Schönstatt-Bewegung „Heiligtum“ genannt) wird ab diesem Moment zur lokalen Mitte der Marianischen Kongregation. Der Pädagoge Kentenich wartet zunächst, ob die Sodalen das Anliegen vom 18. Oktober wirklich als ihr eigenes angenommen haben, und unternimmt daher selber keine weiteren Schritte. Als die älteren Sodalen zum Militär eingezogen werden, versucht er einen brieflichen Kontakt mit ihnen zu halten. Er nimmt wahr, dass die seelische Verbindung der Sodalen mit dem Kongregationskapellchen und untereinander an Bedeutung gewinnt, ausgelöst besonders durch die Trennung vom Ort Schönstatt und die grausamen Kriegserfahrungen.
„Für die Gründergeneration der Schönstatt-Bewegung, die jugendlichen Bewohner des Studienheimes der Pallottiner, die ein erstes Mal entwurzelt worden waren aus der Heimat des Elternhauses und nun in die Wirren an den Fronten des Ersten Weltkrieges geworfen wurden, konnte das Kapellchen in Schönstatt zum letzten Anker eines Heimatgefühles werden. Das Liebesbündnis mit der Mutter Jesu – geschlossen an diesem Ort – führte zu seelischer Beheimatung: Heimat im Herzen Mariens, Heimat in den Herzen derer, die ebenfalls das Liebesbündnis geschlossen hatten, Heimat am Ort des Bündnisschlusses, dem Kongregationskapellchen, Heimatgefühl auch in den allmählich sich herausbildenden Gepflogenheiten der jungen Gemeinschaft...“
Wo es möglich ist, bilden die im Krieg kämpfenden Sodalen kleine Gruppen, in denen sie, angeregt durch Briefe vom Spiritual und vom Präfekten der Kongregation, den gemeinsamen Austausch pflegen und zum Wachstum im geistlichen Leben gefördert werden. Diesen Kleingruppen schließen sich auch andere junge Soldaten an. Im März 1916, auf das Anliegen Kentenichs hin, erscheint die erste Nummer der Zeitschrift „Mater Ter Admirabilis“. Die Zeitschrift soll den Austausch über das Leben der Kongregation in Schönstatt und in den vielen Kriegsorten sichern.
Viele Sodalen kehren aus dem Krieg nicht mehr zurück. Josef Engling, einer von ihnen, bietet, drei Monate vor seinem Tod, sein Leben für die Anliegen der Kongregation an. In seinem Weihegebet an Maria vom 3. Juni 1918 heißt es: „[…] Dein bin ich. Verfüge über mich und das Meinige, ganz wie es Dir gefällt. Wenn es sich jedoch mit Deinen Plänen vereinigen lässt, lass mich ein Opfer sein für die Aufgaben, die Du unserer Kongregation gestellt hast.“ Am 4. Oktober 1918, am Ende des Krieges, fällt Josef Engling in der Nähe von Cambrai in Nordfrankreich. Sein Streben nach Heiligkeit und sein Ringen um Selbsterziehung wurden durch die furchtbaren Kriegsbedingungen nicht geschwächt, sondern intensiviert. Das Liebesbündnis mit Maria gab ihm schließlich die Kraft zur freiwilligen Hingabe des eigenen Lebens. Er wurde zum Vorbild des gelebten Liebesbündnisses für Kentenich und für alle Sodalen. Sein Lebenszeugnis sowie das Lebenszeugnis anderer gefallenen Sodalen hatten einen wesentlichen Einfluss auf die fruchtbare Entwicklung der beginnenden Schönstatt-Bewegung.
Durch die Kriegsumstände wuchs die Marianische Kongregation über die Zahl der Mitglieder aus dem Pallottiner Studienheim hinaus. Es bildete sich eine Außenorganisation. Am 19./20. August 1919 fand in Dortmund-Hörde eine wichtige Versammlung statt, an der die Mitglieder der Außenorganisation zusammen mit einigen Sodalen aus Schönstatt teilnahmen, um über die weitere Entwicklung zu beraten. Kentenich war absichtlich abwesend, damit die Sodalen ganz frei ihre Entscheidungen treffen konnten. Das Ergebnis der Versammlung in Hörde war folgendes: Aus der Außenorganisation wurde der „Apostolische Bund“, dessen Zweck „die Erziehung gebildeter Laienapostel im Geiste der Kirche“ war. Kentenich wurde von seiner Gemeinschaft für die Arbeit am Aufbau des Apostolischen Bundes freigestellt. Bald nach der Gründung wurden auch Frauen in den Bund aufgenommen. Zusammen mit der „Apostolischen Liga“, die 1920 entstand, bildete der Apostolische Bund die „Apostolische Bewegung von Schönstatt“.
Am Anfang der sich entwickelnden Schönstatt-Bewegung hält Kentenich mit fast jedem Mitglied einen intensiven persönlichen Kontakt. Als er noch Spiritual im Studienheim der Pallottiner war, konzentrierte er sich hauptsächlich auf die Begleitung der Schüler durch persönliche Gespräche. Die geistliche Begleitung von Einzelnen prägt auch seine spätere seelsorgerliche Tätigkeit. In der persönlichen Begegnung mit ihm dürfen viele Menschen „seelische Beheimatung“ erfahren, indem sie sich von ihm in ihrer Originalität angenommen, verstanden und wertgeschätzt fühlen. Einen wichtigen Bestandteil seiner Seelsorge in den zwanziger und dreißiger Jahren bilden Exerzitien und sog. „Seelenführerkurse“. Während in den Exerzitien verschiedene Aspekte der Spiritualität der Schönstatt-Bewegung vertieft und entwickelt werden, wird in den Seelenführerkursen v.a. der pädagogische und psychologische Ansatz Kentenichs entfaltet. Auch bei den Kursen mit vielen Teilnehmern legt Kentenich einen besonderen Wert auf Einzelgespräche. Persönlicher Kontakt mit den Menschen ist ihm wichtiger als seine Vorträge. Ebenso „dem Gemeinschaftserlebnis gehört seine Aufmerksamkeit: Ihm ist es ein Anliegen, dass Ort, Erlebnis, Atmosphäre und Thema so zusammenwirken, dass ein tiefgreifender Gemeinschaftsgeist die Teilnehmer mitträgt.“ Am Anfang sind es überwiegend Priester der Apostolischen Bewegung von Schönstatt, die an den von Kentenich gehaltenen Exerzitien und Seelenführerkursen teilnehmen. Später werden die Kurse, v.a. die Exerzitienkurse, von vielen Welt- und Ordenspriestern besucht. Kentenich wird in dieser Zeit zu einem der wichtigen Exerzitienmeister für den Klerus in Deutschland. Diese Tatsache mindert nicht seinen Einsatz für die Ausbildung der Laien und die Förderung ihres Engagements in der Kirche. Deshalb werden die Seelenführerkurse durch pädagogische Tagungen, die für einen weiten Zuhörerkreis angeboten werden, ergänzt.
Die Schönstatt-Bewegung erlebt in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ein großes Wachstum. Kentenich ist es wichtig, dass jeder Mensch gemäß seiner Berufung in Schönstatt seine „Heimat“ finden kann. Deshalb gründet er „eine Vielzahl einzelner kleiner Gemeinschaften, sogenannte ‚Gliederungen‘, welche der Vielfältigkeit christlicher Berufungen Rechnung tragen sollen“. Die Schönstatt-Bewegung zeichnet sich daher durch eine föderale Struktur aus. Heute besteht sie aus mehr als zwanzig rechtlich eigenständigen Gemeinschaften, die sich nach der jeweiligen Lebensform und nach dem Grad der rechtlichen Bindung sowie der gemeinschaftlichen und apostolischen Verpflichtungen voneinander unterscheiden.
3.3 Die Zeit der Prüfung und Läuterung
In der Zeit des Nationalsozialismus, in dem Kentenich von Anfang an eine große Gefahr für die Menschheit sah und ihn entschieden ablehnte, setzte er sich dafür ein, dass einige von den „Schönstätter Marienschwestern“ nach Afrika und Südamerika ausgesandt wurden, um angesichts der bedrohlichen Situation in europäischen Ländern die Gründung der Schönstatt-Bewegung im außereuropäischen Raum voranzutreiben.
Am 11. August 1935 wurde das Silberne Priesterjubiläum P. Kentenichs mit der „Schönstattfamilie“ gefeiert. In seiner Ansprache hielt er Rückschau auf die Gründung und die fruchtbare Entwicklung der Schönstatt-Bewegung. Dabei betonte er die gegenseitige Mitarbeit und das „Aufeinander-Angewiesen-Sein“ zwischen ihm und den Mitgliedern der Schönstattfamilie:
„Das Buch, das ich gelesen habe, ist das Buch der Zeit, das Buch des Lebens, das Buch Ihrer heiligen Seele. Hätten Sie mir Ihre Seele nicht so rückhaltlos erschlossen, die meisten geistigen Errungenschaften wären niemals entdeckt worden. Aus Büchern kann man das nicht lesen, das kann man nur aus dem Leben lesen. […].
Wenn Sie wissen wollen, worin das Geheimnis einer fast überreichen Fruchtbarkeit liegt, dann darf ich Ihnen sagen: sie liegt in dieser tiefen, gegenseitigen innerseelischen Verknüpfung.“
In diesem autobiographisch orientierten Vortrag wird die Bedeutung seines pädagogisch-psychologischen Ansatzes vom „Bindungsorganismus“ für das eigene priesterliche Leben und Wirken sehr deutlich.
Im gleichen Jahr kam es zu ersten kritischen Anfragen seitens der kirchlichen Autoritäten „bezüglich mancher Aspekte der Spiritualität der Schönstatt-Bewegung und deren Anwendung“. Die kirchlichen Amtsträger waren in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht besonders offen für „Kentenichs Versuch, pädagogische und psychologische Erkenntnisse in die Begleitung von Menschen und die Gestaltung gemeinsamen religiösen Lebens einzubringen“. Seine „Betonung der Freiheit im religiösen Leben und in der Erziehung“ sowie sein Akzent auf die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für die Beziehung zu Gott, waren ihnen ein Dorn im Auge.
Am 20. September 1941 wurde Kentenich von der Gestapo verhaftet. Sechs Monate war er im Gefängnis in Koblenz interniert, davon musste er vier Wochen in Dunkel- und Isolationshaft verbringen. Danach sollte er in ein Konzentrationslager geschickt werden. In der vollen Hingabe an den Willen Gottes und seine Führung entschied er sich bewusst keinen Antrag auf eine zusätzliche ärztliche Untersuchung, die ihn vom Transport ins KZ hätte befreien können, zu stellen. In der Nachfolge des leidenden Jesus verzichtete er darauf, eventuell seine äußere Freiheit wiederzugewinnen. Er tat es, um der Schönstattfamilie ein Wachstum in der inneren Freiheit zu erflehen. Vom 13. März 1942 bis 6. April 1945 war Kentenich im KZ Dachau. Weil er dort zu jeder Zeit mit dem Tod rechnen musste, aber gleichzeitig seine Verantwortung für die Schönstattfamilie wahrnehmen zu müssen glaubte, schrieb er mehrere zentrale Werke zur Spiritualität der Schönstatt-Bewegung, anfangs in Reimform, später als sogenannte „Lesefrüchte“, um seine Absichten zu tarnen. Darunter nimmt die Gebetssammlung „Himmelwärts“ eine besondere Stellung ein. Darin findet sich das sog. „Heimat-Lied“, ein in Gedichtform verfasstes Gebet, das Kentenich Anfang 1943 in der „Hölle von Dachau“ (wie er selber das Konzentrationslager charakterisiert) schreibt. Er drückt darin aus, wie stark seine Verbundenheit mit Schönstatt ist und wie seine Seele sich im Liebesbündnis mit Gott, der Gottesmutter und den Mitgliedern der Schönstattfamilie, trotz der Erfahrung der Heimatlosigkeit im KZ, beheimatet fühlt. Das „Heimat-Lied“ beginnt mit folgenden Zeilen:
„Kennst du das Land, so warm und traut, das ewige Liebe sich erbaut: Wo edle Herzen innig schlagen und opferfreudig sich ertragen; wo sie – einander bergend – gluten und hin zum Gottesherzen fluten; wo Liebesströme sprudelnd quillen, den Liebesdurst der Welt zu stillen? Dies Wunderland ist mir bekannt; es ist im Taborglanz die Sonnenau, wo unsere Dreimal Wunderbare Frau im Kreise ihrer Lieblingskinder thront und alle Liebesgaben treulich lohnt mit Offenbarung ihrer Herrlichkeit und endlos, endlos reicher Fruchtbarkeit: Es ist mein Heimatland, mein Schönstattland.“
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs widmet sich Kentenich mit ganzer Kraft der inneren Strukturierung der Schönstatt-Bewegung und unternimmt mehrere Auslandsreisen nach Nordamerika, Südamerika und Südafrika. Die Begegnungen mit den Menschen anderer Kulturen und Mentalitäten bereichern sein Menschenbild und bestätigen größtenteils seine pädagogischen Anliegen und seinen Ansatz eines ganzheitlichen Denkens, das verschiedene Lebensvorgänge beachtet und zu integrieren versucht. 1950 und 1951 hält Kentenich mehrere pädagogische Tagungen. In seinen Vorträgen bezieht er sich auf die schwierige soziale und politische Situation in Europa nach dem Kriegsende, v.a. auf den wachsenden Einfluss des Sozialismus bzw. Kollektivismus im Osten, auf die zunehmende Säkularisierung und auf den Verlust der Heimat vieler Menschen. Er behandelt darin die brennenden sozialen Themen aus pädagogischer und religionspsychologischer Perspektive.
In der Zeit nach 1951 erreichte die Auseinandersetzung Schönstatts mit den kirchlichen Autoritäten einen Höhepunkt. Kentenich selber war daran interessiert, dem Ortsbischof Einblick in sein pädagogisch-seelsorgerliches Tun zu geben. Deswegen bat er den zuständigen Bischof von Trier um einen „Vertrauensmann“, der das Schönstatt-Werk im Auftrag des Bischofs „wissenschaftlich studieren“ sollte. Noch bevor sein Antrag das Ordinariat in Trier erreichte, hatte sich die Deutsche Bischofskonferenz für eine kanonische Visitation des neuen Säkularinstitutes der Schönstätter Marienschwestern entschieden. Das Ergebnis der Visitation war größtenteils positiv. Jedoch brachte der Abschlussbericht einige Einwände, „die sich in erster Linie auf das Erziehungssystem der Marienschwestern und den originellen Wortschatz Schönstatts bezogen“. Weil die Einwände auch wesentliche Punkte des Menschen- und Gemeinschaftsbildes Kentenichs in Frage stellten, antwortete er dem bischöflichen Visitator mit einer ausführlichen Studie, in der er die Bedeutung des ganzheitlichen Denkens für Gesellschaft und Kirche unterstrich. Die Reaktion vonseiten der kirchlichen Autorität auf sein langes Schreiben war eine Apostolische Visitation, durchgeführt 1951 durch den Jesuitenpater Sebastian Tromp, die zur Folge hatte, dass Kentenich all seiner Ämter enthoben und aus Europa ausgewiesen wurde, um vom Schönstatt-Werk vollkommen getrennt zu werden. Er musste seine Heimat, die er in Schönstatt hatte, verlassen, und wusste nicht, ob er irgendwann wieder zurückkäme. Es war nicht sein freiwilliger Entschluss, ins Exil zu gehen, sondern er nahm Abschied im Gehorsam der kirchlichen Autorität gegenüber.
Insgesamt waren es lange 13 Jahre, die er im Exil bei den deutschen Pallottinern in Milwaukee in den USA verbrachte. Seine seelsorgerliche Tätigkeit wurde dadurch nicht lahmgelegt, sondern bekam neue Akzente. Er wurde zum gesuchten Beichtvater und geistlichen Begleiter. Viele Menschen wurden durch seine „priesterliche Väterlichkeit“ angezogen. 1959 wurde er zum Seelsorger für die Deutsche Gemeinde in Milwaukee ernannt. „Er nahm diese Aufgabe an, weil er die Anpassungsschwierigkeiten der meist aus heimatvertriebenen Einwanderern bestehenden Gemeinde kannte: Er wollte einen Übergang schaffen helfen, damit nicht mit dem Verlust der Heimat auch die religiöse Gebundenheit der Menschen verloren ginge.“ Viel Zeit widmete Kentenich der Familienpastoral. Bekannt sind v.a. seine Montag-Abend-Vorträge für Ehepaare. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit den Familien bildete eine wichtige Grundlage für die Entstehung des „Hausheiligtums“.
Am 11. Oktober 1962 wurde das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet. Während der Abschlussphase des Konzils wurde Kentenich, am 13. September 1965, durch ein Telegramm von der Generalleitung der Pallottiner nach Rom gerufen. Als er dort ankam, wusste niemand vor Ort von einem Telegramm. Weil jedoch seine Ankunft vom Heiligen Offizium für Oktober geplant war, durfte Kentenich in Rom bleiben. Die Religiosenkongregation, die mit der Lösung seines Falls beauftragt wurde, hob die Anklagen des Heiligen Offiziums gegen seine Person auf. Er durfte aus der Gesellschaft der Pallottiner austreten und wurde in die Diözese Münster inkardiniert. Am 22. Dezember 1965 hatte er eine offizielle Audienz bei Paul VI., nach der er nach Schönstatt zurückkehren konnte. Der Kurienkardinal Augustin Bea, der P. Kentenich schätzte und unterstützte, sagte zu ihm: ‚Ohne das Konzil wären Sie nie verstanden worden!‘
In den letzten drei Jahren seines Lebens, die er überwiegend am Gnadenort Schönstatt verbrachte, arbeitete er mit voller Kraft für die weitere Entfaltung der Schönstatt-Bewegung. Er starb „unmittelbar nach seiner ersten Eucharistiefeier in der neu erbauten“ Dreifaltigkeitskirche in Schönstatt am 15. September 1968. In der dortigen Sakristei, an der Stelle seines Todes, befindet sich auch sein Grab. Auf seinem Grabstein wünschte er sich zwei Worte zu haben: „Dilexit Ecclesiam“. Trotz langer Auseinandersetzungen mit kirchlichen Autoritäten und trotz seiner Jahre in der Verbannung hielt er bis zum Ende seines Lebens an der Liebe zur Kirche fest. Er setzte sich für eine erneuerte Kirche ein, in der die Menschen seelische Beheimatung erfahren können.
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