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Der Apostel Paulus und die Wurzeln seines Glaubens

Referat zum Pastoraltag  -  13. Oktober 2008, Stuttgart-Freiberg

Dr. Bernd Biberger
Dr. Bernd Biberger
Dr. Bernd Biberger

1. Hinführung: Das Verhältnis von Altem und Neuen Testament

„Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist.“ Diese Aussage der päpstlichen Bibelkommission in ihrem 2001 veröffentlichten Dokument „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (Nr. 84),1 die vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, in seinem dem Dokument vorangestellten Vorwort ausdrücklich zitiert wird,2 bringt das Verhältnis der beiden Teile der Heiligen Schrift auf den Punkt: Das Neue Testament ist ohne die Kenntnis des Alten Testaments nicht in seiner ganzen Fülle verständlich. Das Alte Testament ist für Jesus (vgl. Lk 4,16-21) wie auch für alle Glaubenszeugen des Neuen Testaments „Heilige Schrift“. Das Christus-Ereignis will aus den Schriften des Alten Testaments heraus verstanden werden. Zu erinnern ist an das Emmaus-Evangelium, wo es in Lk 24,27 vom Auferstandenen heißt: „Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“. Zu denken ist auch an das Evangelium von der Verklärung Jesu. Es sind mit Mose und Elija die zentralen Repräsentanten des Alten Testaments, die erscheinen und die für die Tora und die Propheten stehen. Immer wieder wird das Alte Testament in den Schriften des Neuen zitiert, nicht nur um anzuzeigen, dass sich die Verheißungen des Alten in den Ereignissen des Neuen Testaments erfüllt haben, sondern auch um die Ereignisse des Neuen Testaments von der Botschaft des Alten Testaments her zu legitimieren.

Was vom Verhältnis des Alten und des Neuen Testaments im Allgemeinen gilt, gilt genauso für Paulus im Besonderen. Auch für ihn ist das Alte Testament die Hl. Schrift, an der sich seine Verkündigung legitimieren muss, und auch er greift auf das Alte Testament zurück, um seine Botschaft von Christus, dem Auferstandenen zu entwickeln. Im Folgenden soll an einigen Beispielen dargelegt werden, wie Paulus auf das Alte Testament zurückgreift.

2. Das Selbstverständnis des Paulus

2.1 Die Bekehrung bzw. die Berufung des Paulus

Unser Verständnis von der Bekehrung des Paulus ist stark vom Zeugnis der Apostelgeschichte beeinflusst. Nicht weniger als dreimal erzählt die Apostelgeschichte von den Ereignissen vor Damaskus (vgl. Apg 9,1-29; 22,3-29 und Apg 26,4-29). Doch schon diese drei Erzählungen, die alle auf den lukanischen Verfasser der Apostelgeschichte zurückgehen, differieren in ihrer Ausgestaltung. Jede hat ihre eigene theologische Aussageabsicht.3 Paulus selbst kommt in seinem Brief an die Galater (Gal 1,15-17) auf diese zentrale Wende seines Lebens zu sprechen:4

15 Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte
16 seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, da zog ich keinen Menschen zu Rate;
17 ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück.

Zunächst einmal fällt auf, dass Paulus nicht von einer Bekehrung, sondern von einer Berufung spricht. Um dieses Ereignis zu deuten, greift Paulus auf die Botschaft des Alten Testaments zurück. In v.15 spricht er von der Erwählung im Mutterleib. Die Erwählung im Mutterleib ist im Alten Testament dreimal erwähnt: Im zweiten Gottesknechtlied wird in Jes 49,1.5 zweimal betont, dass Gott seinen Knecht bereits im Mutterleib berufen hat:

1 Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne! Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt.
5a Jetzt aber hat der Herr gesprochen, der mich schon im Mutterleib zu seinem Knecht gemacht hat, damit ich Jakob zu ihm heimführe und Israel bei ihm versammle.

Angesichts dessen, dass Paulus sich in Röm 1,1 als „Knecht Jesu Christi“ bezeichnet, wäre denkbar, dass er sich auf diesen Text bezieht. Jedoch war für die junge Kirche von Anfang an klar, dass der leidende Gottesknecht mit Jesus dem Christus identisch ist. Paulus hat sich keineswegs als den leidenden Gottesknecht verstanden, sondern als dessen Apostel, so dass ein Bezug auf Jes 49 unwahrscheinlich ist.

Die Erwählung im Mutterleib begegnet auch in der Berufungserzählung des Propheten Jeremia (Jer 1,5). Dort sagt Gott zu Jeremia:

5 Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.

Diese Erwählung Jeremias im Mutterleib wird ein weiteres Mal in Sir 49,6-7 genannt. Über die Babylonier sagt der Text:

6 Sie zündeten die Heilige Stadt an, so dass die Straßen verödeten,
7 zur Strafe dafür, dass sie Jeremia misshandelt haben, obwohl er vom Mutterleib an zum Propheten geschaffen war, um auszureißen, niederzureißen und zu vernichten, aber auch um aufzubauen, einzupflanzen und zu stärken.

In Jer 1,5 macht Gott nicht nur deutlich, dass er Jeremia bereits im Mutterleib erwählt und ihn schon vor seiner Geburt befähigt hat, sondern er benennt auch den Auftrag, der Jeremia übertragen ist: Prophet für die Völker zu sein. In ähnlicher Weise sagt Paulus in Gal 1,16 über seine Berufung, dass Gott ihm „seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige“. Wenn man bedenkt, dass im griechischen Urtext für „Heiden“ mit o` e;qnoj dasselbe Wort verwendet wird, das LXX in Jer 1,5 für „Völker“ gebraucht (o` e;qnoj bedeutet wörtlich ja nichts anderes als „das Volk“), dann zeigt sich neben der Erwählung im Mutterleib ein zweiter wörtlicher und sachlicher Bezug zwischen Gal 1,15-17 und Jer 1,5. Um darzulegen, was die Wende seines Lebens, die gemäß der Apostelgeschichte vor Damaskus stattfand, für ihn bedeutet, greift Paulus gezielt auf die Berufungserzählung des Propheten Jeremia zurück. Paulus bringt damit verschiedene Aspekte zum Ausdruck:

a) Indem er auf eine biblische Berufungserzählung Bezug nimmt, macht er deutlich, dass er seine Lebenswende in gleicher Weise als Berufung versteht. Wenn wir von der Bekehrung des Paulus sprechen, ist dies sachlich eigentlich nicht ganz korrekt, auch wenn die Berufung eine Bekehrung voraussetzt.

b) Paulus macht ferner deutlich, dass diese Berufung sich nicht erst in dem Moment ereignet, als Gott ihm seinen Sohn offenbart, sondern dass sein ganzes bisheriges Leben, seine Ausbildung zum Schriftgelehrten, seine Eifer für die wahre Lehre, unter diesem Vorzeichen gesehen werden will. Gott hat diese Lebensphasen benützt, um ihn auf seine eigene Berufung vorzubereiten. Die Berufung ist bereits im Mutterleib geschehen (Vergangenheit!), sie wird aber jetzt erst kundgetan.

c) Paulus stellt sich mit seiner Berufung in die Reihe der Propheten. Dabei stellt Paulus ausgerechnet die Verbindung zu Jeremia her, der, wie die Bezüge zwischen Jer 1 und dem Prophetengesetz in Dtn 18 (v.9-22) zeigen,5 als wahrer Prophet in der Nachfolge Moses dargestellt wird. Was zunächst als mangelnde Bescheidenheit oder gar als Anmaßung empfunden werden kann, ist zu verstehen auf dem Hintergrund der immer wieder auftretenden Zweifel an der Autorität des Paulus.

d) Schließlich und vor allem macht Paulus den Inhalt seiner eigenen Berufung deutlich: Er ist zu den Völkern gesandt.

Diese Sendung zu den Völkern heben auch zwei der drei Berufungserzählungen der Apostelgeschichte hervor. So heißt es in Apg 22,21:

Aber er sagte zu mir: Brich auf, denn ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden.

Und in Apg 26,17:

Ich will dich vor dem Volk und den Heiden retten, zu denen ich dich sende.

Die Betonung seiner Sendung zu den Völkern (bzw. zu den Heiden, wie die Einheitsübersetzung wiedergibt), ist für Paulus ein Schlüsselmoment, um sein Wirken zu verstehen. Dieses Moment erklärt, warum er rastlos umherreist. Paulus gründet zahlreiche Gemeinden, aber er sieht nicht seine Aufgabe darin, den Aufbau weiter voranzutreiben. Paulus wirkt auch nicht in Gegenden, in denen schon Gemeinden bestehen. Die Missionsstrategie des Paulus sieht vielmehr so aus, dass er an zentralen Orten Gemeinden gründet, die dann wiederum selbst in die Umgegend ausstrahlen. Im Römerbrief spricht er sogar davon, dass er nach Spanien weiterreisen will (Röm 15,24.28). Paulus kommt vom Ostende des Römischen Reiches. Wenn er das Westende erreicht hat, dann hat er allen Völkern, zumindest allen Völkern der ihm bekannten Welt, das Evangelium verkündet.

Die Sendung zu den Völkern lässt auch verstehen, warum Paulus mit der Gemeinde in Rom Kontakt aufnimmt. Obwohl es in Rom schon Gemeinden gibt, will er dorthin. Dies widerspricht seiner sonstigen Missionsstrategie. Rom ist jedoch der Mittelpunkt der ihm bekannten Welt. Wenn Paulus zu den Völkern gesandt ist, muss er auch in das Zentrum der Welt.

Schließlich lässt seine Sendung zu den Völkern auch verstehen, warum er sich in der Frage, ob die Angehörigen der Völker sich zuerst beschneiden lassen und sich an die Tora halten müssen, eine Frage, die zum Apostelkonzil geführt hat, auf die Seite der Völker stellt und für einen direkten Zugang zum Evangelium einsetzt. Wenn Gott ihn zu den Völkern sendet, um ihnen das Evangelium zu verkünden, dann ist es auch Gottes Wille, dass die Angehörigen der Völker allein durch die Taufe zum Heil finden und nicht erst über den Umweg der Beschneidung.

Seine Sendung zu den Völkern kann Paulus auf dem Hintergrund der jüngsten alttestamentlichen Verheißungen verstehen: der Wallfahrt nach Jerusalem. Im Alten Testament findet sich die Verheißung an die Völker, dass ihnen, wenn sie sich Gott zuwenden, das Heil geschenkt ist. Diese Verheißung hat sich im Christus-Ereignis für Paulus erfüllt.

2.2 Paulus – Apostel der Völker

Paulus versteht also seine Lebenswende auf dem Hintergrund der Berufung des Propheten Jeremia. In einem Punkt hebt sich Paulus jedoch von Jeremia ab. Während Jeremia zum Propheten berufen ist, weiß sich Paulus zum Apostel erwählt. Dabei ist zu beachten, dass die Eingrenzung des Begriffs „Apostel“ auf die zwölf namentlich genannten Jünger Jesu und ihre Funktion als die Repräsentanten des neuen Israels in Entsprechung zu den zwölf Söhnen Jakobs, die für die zwölf Stämme Israels stehen, auf die synoptischen Evangelien zurückgeht. Diese sind aber jünger als die Briefe des Paulus. „Apostel“ ist für Paulus zunächst einmal der, der von Gott beauftragt ist, die Botschaft des Evangeliums zu verkünden. Immer wieder betont Paulus, dass er zum Apostel berufen ist. Am Beginn des Römerbriefes (1,1-2) heißt es:

1 Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkündigen,
2 das er durch seine Propheten im Voraus verheißen hat in den heiligen Schriften:

Ähnlich beginnt der Galaterbrief (1,1):

Paulus, zum Apostel berufen, nicht von Menschen oder durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und durch Gott, den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat.

Etwas knapper setzt der Erste Korintherbrief (1,1) ein:

Paulus, durch Gottes Willen berufener Apostel Christi Jesu.6

Das Wort „Apostel“ leitet sich vom griechischen Wort avposte,llw ab und bedeutet nichts anderes als „Gesandter“. avposte,llw und das dazugehörige Derivat evxaposte,llw werden in der Septuaginta verwendet, um das hebräische Wort xlv zu übersetzen. xlv ist das klassische Lexem für „Sendung“. Der Aspekt der Sendung gehört aber wesentlich zu den Berufungserzählungen hinzu. So heißt es in der Berufungserzählung des Jesaja (6,8-9):

8 Danach hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich antwortete: Hier bin ich, sende mich!
9 Da sagte er: Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.

In ähnlicher Weise sagt Gott zu Jeremia (1,7):

Der Herr erwiderte mir: Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden.

Zu Mose sagt Gott (Ex 3,10):

Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!

Senden und gehen sind zwei Seiten einer Medaille.7 Gott sendet, der Berufene geht. Wenn Paulus einen solch großen Wert auf den Aposteltitel legt, dann will er betonen, dass er ein solcher Gesandter ist. Wie die großen Glaubensgestalten Israels hat auch er einen Auftrag, der ihm von Gott übertragen ist.

2.3 Knecht Jesu Christi

In der Eröffnung des Römerbriefes bezeichnet sich Paulus nicht nur als Apostel, sondern auch als „Knecht Christi Jesu“. Diese Formulierung erinnert an die alttestamentliche Redeweise vom Knecht JHWHs (hw"hy> db,[,). Damit wird nicht nur der leidende Gottesknecht oder das Volk Israel bezeichnet,8 sondern auch Mose, Josua und David.9 An verschiedenen Stellen werden zudem die Propheten als Knechte Gottes deklariert.10 Im Jeremia-Buch wird außerdem durchweg darauf hingewiesen, dass es JHWH war, der die Propheten gesandt hat. So heißt es in Jer 7,25:

Von dem Tag an, als eure Väter aus Ägypten auszogen, bis auf den heutigen Tag sandte ich zu euch immer wieder alle meine Knechte, die Propheten.

Ähnlich überliefert Jer 25,4:

Der Herr hat immer wieder alle seine Knechte, die Propheten, zu euch gesandt.

Indem Paulus sich in Röm 1,1 als Knecht Jesu Christi bezeichnet, stellt er sich in eine Reihe mit diesen führenden Glaubensgestalten. So wie Mose und Josua das Volk führen und die Propheten das Wort Gottes verkünden sollten, so soll Paulus das Evangelium verkünden. Und so wie die Mose und Propheten von Gott gesandt waren, so ist Paulus gesandt. Und so wie Mose und die Propheten Knechte JHWHs waren, also vollkommen im Dienst Gottes standen, so steht Paulus ganz im Dienst Jesu Christi.

Nun fällt auf, dass der Römerbrief der einzige der echten Paulus-Briefe ist, in denen sich Paulus in der Anrede als Knecht Jesu Christi bezeichnet. Sie begegnet noch einmal in einem der wohl nicht von Paulus geschriebenen Pastoralbriefe, am Beginn des Titusbriefes (1,1):

Paulus, Knecht Gottes und Apostel Jesu Christi, berufen, um die Auserwählten Gottes zum Glauben und zur Erkenntnis der wahren Gottesverehrung zu führen.

Dass Paulus die Bezeichnung „Knecht Jesu Christi“ in den Anreden der anderen Briefe nicht gebraucht, mag damit zu tun haben, dass der Römerbrief der einzige Brief ist, den Paulus an Judenchristen und nicht an Heidenchristen schreibt. Er greift somit gezielt auf eine Wortwahl zurück, die seinen Adressaten geläufig war. Immerhin bezeichnet sich Paulus auch im Galaterbrief als Knecht Jesu Christi, wenn er schreibt (Gal 1,10):

Geht es mir denn um die Zustimmung der Menschen, oder geht es mir um Gott? Suche ich etwa Menschen zu gefallen? Wollte ich noch den Menschen gefallen, dann wäre ich kein Knecht Christi.

Die Worte machen deutlich, was ein Knecht Christi für Paulus ist: keiner, der Gefallen bei den Menschen sucht, sondern einer, dem es allein um Gott geht, selbst wenn er sich damit in Widerspruch zu den Menschen setzt.

2.4 Zusammenfassung

Diese Überlegungen zeigen, dass Paulus ein ganz dezidiertes Selbstverständnis hat. Er betont seine ihm von Gott übertragene Sendung zum Apostel für die Völker. Diese entwickelt er von den Propheten her und versteht sich in einer Reihe mit ihnen als Knecht Gottes.

3. Gerecht aus Glauben

3.1 Gen 15,6 als Schlüsselimpuls

Eines der zentralen theologischen Themen des Paulus, das vor allem im Protestantismus einen starken Widerhall gefunden hat,11 ist die Rechtfertigungslehre. Diese entwickelt Paulus jedoch nicht allein vom Christus-Ereignis her. Schlüsselimpuls scheint für ihn vielmehr das Urteil Gottes über Abraham in Gen 15,6 gewesen zu sein, wo es wörtlich heißt:

„Und er glaubte JHWH. Und er rechnete es ihm zur Gerechtigkeit an.“

Subjekt des zweiten Satzes ist für Paulus zweifellos JHWH. Sprachlich besteht aber auch die Möglichkeit, dass wie im ersten Satz Abraham Subjekt ist. Dann würde kein Subjektwechsel vorliegen, so dass man den Satz auch folgendermaßen wiedergeben könnte: „Und Abraham rechnete es JHWH zur Gerechtigkeit an“, nämlich dass JHWH seine Verheißung von Nachkommen erneuert und mit einem Zeichen bekräftigt. Dann wäre der zweite Satz parallel zum ersten als Reaktion Abrahams auf die Bestätigung der Verheißung durch Gott zu verstehen. Diese Möglichkeit ist allerdings bei Paulus nicht im Blick. Für ihn bedeutet der Satz eindeutig, dass Gott Abraham seinen Glauben als Gerechtigkeit anrechnet.

An zwei verschiedenen Stellen entwickelt Paulus ausgehend von Gen 15,6 den Gedanken der Rechtfertigung aus Glauben: in Röm 4,1-25 und in Gal 3,6-18. Beide Texte sind gleichzeitig ein Zeugnis für den Umgang des Paulus mit der Schrift.

3.2 Gal 3,6-1412

In Gal 3,1-5 appelliert Paulus mit fünf Fragen an die Galater, „zur Einsicht zu kommen, daß ihr Bekenntnis zu Jesus Christus nicht auf Gesetzeswerke, sondern auf die Botschaft des Glaubens an den Gekreuzigten gegründet ist“13. In v.5a stellt Paulus die Frage:

Warum gibt euch denn Gott den Geist und bewirkt Wundertaten unter euch?

In v.5b bietet er zwei Alternativen als Antwort:

Weil ihr das Gesetz befolgt oder weil ihr die Botschaft des Glaubens angenommen habt?

Damit ist das Thema der weiteren Argumentation angegeben: die Gegenüberstellung von Gesetz und Glauben. Diese ist bereits in v.2 angelegt.

Dies eine möchte ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch die Botschaft des Glaubens empfangen?

In Gal 3,6-14 entwickelt Paulus auf biblischer Grundlage seine Antwort auf die aufgeworfene Frage. Die Vorgehensweise seiner biblischen Argumentation entspricht dabei der Art und Weise, wie die Schriftauslegung uns von den Rabbinen her bekannt ist:14Zwei Schriftstellen dürfen miteinander direkt zu einer neuen Aussage verbunden werden, wenn sie ein oder mehrere gleiche Wörter aufweisen.“15 Die Rabbinen nennen diese Technik „gzera schawa“ (gleicher Schluss).

Ansatzpunkt seiner Argumentation ist für Paulus das Zitat aus Gen 15,6, das mit den Worten: „von Abraham wird gesagt“ eingeführt wird. Daraus folgt für Paulus nach v.7, dass nur diejenigen Kinder Abrahams sind, die aus dem Glauben sind. Nicht die leibliche Abstammung von Abraham ist für Paulus also entscheidend, sondern die Nachfolge im Glauben. Nur wer wie Abraham glaubt, gehört zu seinen Nachkommen. Diese Argumentation widerspricht gängiger jüdischer Auffassung und ist als solche provozierend. Entsprechend erfordert sie eine Begründung, die Paulus in v.8 bietet. Diese liegt in seinem Rechtfertigungsverständnis: Durch den Glauben sind die Völker gerechtfertigt. Das aber ist nach Paulus bereits Sicht der Schrift, also des Alten Testaments, was er mit einem Zitat belegt:

Durch dich sollen alle Völker Segen erlangen.

Oder, wie es in der Revidierten Lutherübersetzung heißt:

In dir werden gesegnet werden alle Nationen.

Dabei handelt es sich um ein Mischzitat aus Gen 12,3 und 18,18, das auch Berührungen mit Gen 22,18 aufweist. Bezüglich der rabbinischen Interpretationstechnik ist dieses Mischzitat mit Gen 15,6 durch das Stichwort „Abraham“ verbunden. Paulus folgert aus der Verbindung der beiden Belege, dass die, die aus dem Glauben sind, mit dem glaubenden Abraham gesegnet sind.

Diesen Glaubenden stellt er in v.10 die gegenüber, die aus dem Gesetz leben. Diese jedoch leben aus dem Fluch, was er mit Dtn 27,26 belegt:

Verflucht ist jeder, der sich nicht an alles hält, was zu tun das Buch des Gesetzes vorschreibt.

Auch dieses Zitat wird ausdrücklich als Schriftbeleg eingeführt. Mit dem vorangehenden Bibelzitat Gen 12,3 ist es durch das Stichwort „Segen“ bzw. „Fluch“ verbunden.

Für Paulus gibt es prinzipiell zwei Wege zum Heil: den des Glaubens und den des Gesetzes. Der Weg des Gesetzes führt aber nur ans Ziel, wenn alle Gebote gehalten werden. Wenn gegen eines verstoßen wird, wird dieser Weg gemäß Dtn 27,26 zum Fluch. Da aber niemand oder nur wenige in der Lage sind, immer alle Gebote zu befolgen, ist dies für Paulus kein gangbarer Weg.

Paulus untermauert diese Ansicht, indem er in v.11 Hab 2,4 anführt:

Der aus Glauben Gerechte wird leben.

Hab 2,4 ist mit Gen 15,6, dem Ausgangszitat, durch die Stichworte „glauben“ und „gerecht“ verbunden. Dieses Zitat ist nicht ausdrücklich als Schriftbeleg ausgewiesen. Es ist gleichzeitig der einzige biblische Beleg in dieser Argumentation, der nicht aus der Tora, den fünf Büchern Mose, sondern aus den Prophetenbüchern entnommen ist. Paulus verwendet diese Bibelstelle noch einmal in Röm 1,17.16

In v.12 erläutert Paulus seine Ansicht über das Gesetz. Das Gesetz hat nichts mit Glauben, sondern mit Handeln zu tun. Dies leitet Paulus aus dem nächsten Bibelzitat ab, Lev 18,5:

Wer die Gebote erfüllt, wird durch sie leben.

Mit Hab 2,4 ist Lev 18,5 durch das Stichwort „leben“ verknüpft.

In v.13-14 kommt Paulus schließlich auf das Christus-Ereignis und die durch Christus bewirkte Erlösung zu sprechen. Da der Weg des Gesetzes ja ein durch die Schrift, die Gottes Wort ist, vorgegebener Weg ist, muss er auch gegangen werden. Das hat Christus für uns getan, indem er sich für uns am Kreuz hingegeben hat. Christus ist so für uns zum Fluch geworden, weil er uns durch die Schmach des Kreuzes vom in Dtn 27,26 ausgesprochenen Fluch erlöst hat. Dass Christus uns von diesem Fluch erlösen konnte, ergibt sich für Paulus aus Dtn 21,23:

Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt.

Durch das Stichwort Fluch ist Dtn 21,23 mit Dtn 27,26 verbunden. Dtn 21,23 legt also Dtn 27,26 aus.

In v.14 benennt Paulus das Ziel der Hingabe Christi: er hat „uns“, also die Angesprochenen, freigekauft. Den Völkern wird so der ihnen durch Abraham verheißene Segen zuteil (zu erinnern ist an das Mischzitat von Gen 12,13 und 18,18 in v.8). „Aufgrund des Glaubens“ wird den Angesprochenen der Hl. Geist zuteil. Mit „aufgrund des Glaubens“ nimmt Paulus noch einmal Gen 15,6 auf und legt so einen Rahmen um seine in v.6 biblische Argumentation.

Im sich anschließenden Abschnitt v.15-18, der mit der Anrede „Brüder“ einsetzt, sind noch zwei Aspekte von Interesse. In v.16 sagt Paulus, dass „Abraham und seinem Nachkommen“, wörtlich „Abraham und seinem Samen“, die Verheißungen zugesprochen worden sind. Paulus greift einen häufig bezeugten alttestamentlichen Sprachgebrauch auf.17 Das AT selbst versteht darunter immer die leiblichen Nachkommen Abrahams in ihrer Gesamtheit. Paulus hingegen deutet diese Wortverbindung auf Christus hin, weil vom Samen im Singular und nicht im Plural gesprochen ist. Für Paulus folgt daraus, dass nur eine Einzelperson, nicht aber die Nachkommen in ihrer Gesamtheit gemeint sein können.

Im sich anschließenden v.17 setzt er sich mit dem Verhältnis der Verheißungen an Abraham und dem Gesetz auseinander. Dabei spielt die bezeugte geschichtliche Abfolge eine zentrale Rolle: die Verheißung ist älter als das Gesetz. Bezeichnend ist, dass Paulus über das Testament, unter dem er im Bildwort von v.15 die Verheißungen an Abraham versteht, ausdrücklich sagt, dass Gott ihm einst Gültigkeit verliehen hat, wohingegen er vom Gesetz nur sagt, dass es vierhundertdreißig Jahre später erlassen wurde, die göttliche Urheberschaft des Gesetzes hingegen nicht ausspricht. Zwischen den Zeilen kann man zudem lesen, dass das Gesetz, da es ja vierhundertdreißig Jahre nach Abraham erlassen wurde, für diesen keine Bedeutung haben konnte, da er es nicht kannte. Die Rechtfertigung Abrahams, des Stammvaters, geschieht schon deswegen nicht vom Gesetz her. Entsprechend betont Paulus abschließend in v.18b:

Gott hat aber durch die Verheißung Abraham Gnade erwiesen.

Damit spielt für Paulus die Abfolge eine wichtige Rolle: Die Verheißungen an Abraham kommen zuerst und haben damit eine höhere Priorität. Das Gesetz ist diesen untergeordnet. Da Abraham aus Glauben gerecht wurde und nicht durch das Gesetz, hat die Rechtfertigung aus Glauben eine höhere Autorität als die Rechtfertigung durch das Gesetz.

Das wirft aber die Frage auf, welchen Sinn dann das Gesetz hat. Im anschließenden Abschnitt wendet Paulus sich dieser Frage zu, seine biblische Argumentation endet jedoch an dieser Stelle.

3.3 Röm 4,1-2518

In Röm 3,21-31 legt Paulus zunächst dar, dass alle ohne Ausnahme gesündigt haben (v.23) und dass deshalb alle durch das Kreuz Jesu erlöst werden (v.24-25). Die Sühne, die Christus durch seinen Tod für die Sünder erwirkt hat, wird durch den Glauben wirksam. In v.28 fasst Paulus seine Rechtfertigungslehre thesenhaft zusammen:

Wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes.

Zwei Verse später (v.30) macht er deutlich, dass die Rechtfertigung aus Glauben nicht nur den Juden, sondern auch den Völkern gilt.

Gott ist «der Eine». Er wird aufgrund des Glaubens sowohl die Beschnittenen wie die Unbeschnittenen gerecht machen.

Indem Paulus Gott als „den Einen“ bezeichnet, greift er das Grundbekenntnis des Buches Deuteronomiums auf, mit dem das Schema Jisrael einsetzt, das noch heute das Glaubensbekenntnis der Juden bildet.19 In Dtn 6,4 heißt es:

Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.

Bereits in Röm 3,21 verweist Paulus auf das Zeugnis „vom Gesetz und von den Propheten“. Den Beweis dafür, dass seine Rechtfertigungslehre der Schrift entspricht, führt Paulus dann im 4. Kapitel des Römerbriefes.

Zunächst setzt er sich in Röm 4,1-8 mit der Schriftgemäßheit der Rechtfertigungslehre als solcher auseinander. Indem Paulus in v.1 von „unserem leiblichen Stammvater Abraham“ spricht, zeigt sich, dass er im Römerbrief im Gespräch mit Judenchristen und nicht mit Heidenchristen ist. In v.1-2 wirft er die Frage auf, wodurch Abraham denn Gerechtigkeit erlangt hat. Dass er diese nicht durch Werke, sondern durch den Glauben erlangt hat, begründet er mit dem Zitat von Gen 15,6, das er ausdrücklich als Schriftzitat einführt (v.3).

In v.4 formuliert Paulus zunächst eine allgemeingültige Regel: Wer arbeitet, bekommt Lohn, den er auch einklagen kann. Dieser Lohn wird ihm nicht aus Gnade, sondern von Rechts wegen gegeben. Daneben gibt es eine andere Art der Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit aus Glauben, die eben gerade nicht auf das Tun von Werken zurückgeht. Glaube bedeutet für Paulus immer Glaube an den, der den Sünder gerecht macht, also den Glauben an die Erlösung. Diese Gerechtigkeit wird aus Gnade gegeben. Abraham hat in Gen 15 kein Werk getan, sondern er hat geglaubt. Dieser Glaube wird ihm als Gerechtigkeit angerechnet.

In v.6-8 führt Paulus mit Ps 32,1f ein zweites Schriftzitat an und verweist auf die Rechtfertigung des Sünders.

Ab v.9 begründet Paulus dann, warum die Rechtfertigung nicht nur den Juden, sondern auch den Völkern gilt. Ein zweites Mal zitiert er dabei Gen 15,6 (v.9). In v.10 erinnert Paulus daran, dass Abraham der Glaube schon als Gerechtigkeit angerechnet wurde, noch bevor er beschnitten wurde. Paulus argumentiert jetzt also mit der Abfolge der biblischen Überlieferung: Dass Gott Abraham seinen Glauben anrechnet, ist in Gen 15 bezeugt, der Auftrag zur Beschneidung ergeht jedoch erst zwei Kapitel später in Gen 17 (vgl. 10). Damit ist aber die Beschneidung nicht Voraussetzung der Glaubensgerechtigkeit, sondern, wie Paulus in Röm 4,11 zum Ausdruck bringt, „Besiegelung der Glaubensgerechtigkeit“. Da aber Abraham sein Glaube schon vor seiner Beschneidung angerechnet worden war, sind folglich nicht nur alle Beschnittenen, sondern auch alle Unbeschnittenen, sofern sie glauben, gerechtfertigt. Entsprechend ist Abraham nach v.11b-12

11b der Vater aller, die als Unbeschnittene glauben und denen daher Gerechtigkeit angerechnet wird,
12 und er ist der Vater jener Beschnittenen, die nicht nur beschnitten sind, sondern auch den Weg des Glaubens gehen, des Glaubens, den unser Vater Abraham schon vor seiner Beschneidung hatte.

Im sich anschließenden Abschnitt v.13-17 versucht Paulus aufzuzeigen, dass die an Abraham ergangenen Verheißungen diesem nicht wegen des Gesetzes, sondern wegen des Glaubens zuteil wurden. Wenn aber Abraham der Vater aller Glaubenden, auch der Unbeschnittenen, ist und wenn die Verheißungen wegen des Glaubens und nicht wegen des Gesetzes ergehen, dann gelten sie allen, die glauben (v.16). Dass Abraham Vater aller Glaubenden ist, wird schließlich in v.17 durch ein weiteres Schriftwort belegt: durch Gen 17,5:

Ich habe dich zum Vater vieler Völker bestimmt.

Dabei handelt es sich um die Begründung für die Namensänderung von Abram in Abraham. Abraham ist nach Ausweis der Bibel eben nicht nur Vater eines Volkes, nämlich Israels, sondern der Vater vieler Völker.

Im letzten Abschnitt v.18-25 zeigt Paulus auf, wie der Glaube Abrahams zum Vorbild des christlichen Glaubens wird. Er zeichnet die Abrahamsgeschichte nach und zitiert dabei die Mehrungsverheißung aus Gen 15,5:

So zahlreich werden deine Nachkommen sein.

Paulus greift damit den Vers auf, der seinem Hauptargument, Gen 15,6, unmittelbar vorangeht. Gen 15,6 zitiert Paulus in v.22 somit zum dritten Mal innerhalb von Röm 4 und schließt damit den Blick auf die Glaubensgeschichte Abrahams in v.18-22 ab, um dann in v.23-25 die Analogie zum christlichen Glauben an den Auferstandenen zu ziehen.

3.4 Zusammenfassung

Der Durchgang durch Gal 3 und Röm 4 hat gezeigt, wie Paulus dieses für ihn so zentrale Thema der Rechtfertigung aus der „Schrift“, also aus dem Alten Testament entwickelt. Sie ist für ihn theologische Autorität, da sie Wort Gottes ist. Gegen die Schrift kann aber niemand argumentieren, will er nicht als Irrlehrer dastehen. Gleichzeitig haben beide Texte aufgezeigt, wie Paulus die Bibel heranzieht, d.h. welcher Art der biblischen Interpretation er sich bedient.

4. Bestimmt zur Freiheit der Kinder Gottes

Eng mit der Rechtfertigungslehre verknüpft ist für Paulus die Lehre von der Freiheit der Kinder Gottes. Dies zeigt sich daran, dass sie sich im Galaterbrief nahtlos an die Rechtfertigungslehre anschließt. In Gal 4,1-11 legt Paulus dar, dass wir nicht mehr Sklaven, sondern Söhne und Töchter und Erben Gottes sind (v.7). In Gal 4,21-31 setzt er dann erneut zu einem Schriftbeweis an. Wiederum greift der Völkerapostel dabei auf die Abrahamstradition zurück.

Zunächst erinnert Paulus daran, dass Abraham zwei Söhne hatte: Ismael und Isaak (vgl. v.22). Ohne die Namen zu nennen qualifiziert er den einen Sohn als den der Sklavin, gemeint ist Hagar (vgl. Gen 16), den anderen Sohn als den Sohn der Freien, gemeint ist Sara (vgl. Gen 21). Ferner sagt er in v.23, dass der Sohn der Sklavin auf natürliche Weise, der Sohn der Freien aufgrund der Verheißung gezeugt ist. Damit spielt Paulus darauf an, dass die Zeugung Ismaels durch Abraham und Hagar auf menschliche Planspiele Abrahams und Saras zurückgeht, da Sara bis dato nicht schwanger geworden ist (vgl. Gen 16,2). Isaak hingegen ist der von Gott verheißene Nachkomme (vgl. Gen 17,15-21; 21,9-13).

Paulus deutet diese Überlieferung in Gal 4,24-26 allegorisch als „die beiden Testamente“, so die Einheitsübersetzung, bzw. als „zwei Bundesschlüsse“, wie es die Revidierte Lutherbibel übersetzt. Verwendet ist das Wort diaqh,kh, das gewöhnlich mit „Bund“ wiedergegeben wird.20 Hagar steht nach Paulus für den Berg Sinai und damit für die dort ergangene Gesetzesverkündigung. Wie Paulus dazu kommt, diese Verbindung zu ziehen, ist umstritten, braucht uns aber hier nicht weiter zu beschäftigen.21 Dem Berg Sinai stellt Paulus das himmlische Jerusalem gegenüber, das frei ist, und betont in v.26b:

Dieses Jerusalem ist unsere Mutter.

Dies wird durch ein Schriftzitat belegt, nämlich Jes 54,1:

Freu dich, du Unfruchtbare, die nie gebar, du, die nie in Wehen lag, brich in Jubel aus und jauchze! Denn die Einsame hat jetzt viel mehr Söhne als die Vermählte, spricht der Herr.

Vermutlich spielt das Motiv der „Unfruchtbarkeit“ darauf an, dass die Völker bisher nicht an Gott geglaubt haben. Wie Sara, die die Mutter des verheißenen Nachkommen und die Freie ist, spät geboren hat, so gebiert auch die Mutter Jerusalem erst spät. So wie die Einsame in Jes 54 jetzt aber mehr Kinder als die Vermählte hat, so hat die Mutter Jerusalem, nachdem sie fruchtbar geworden ist, mehr Kinder als die „Mutter Sinai“, denn die Völker übertrumpfen Israel von der Zahl her um ein Vielfaches.

Indem Paulus in v.28 hinzufügt:

Ihr aber, Brüder, seid Kinder der Verheißung wie Isaak.

macht er seinen Adressaten nicht nur ein zweites Mal deutlich, dass sie die Freien sind, sondern über das Stichwort der Verheißung holt er die ganze Diskussion um die Rechtfertigung in Gal 3 noch einmal herein (vgl. Gal 3,18).22

In v.29 vergleicht Paulus die Verfolgung der Kinder gemäß der Verheißung durch die Kinder des Fleisches mit der Verfolgung Isaaks durch Ismael. Die Masoretische Überlieferung bietet dafür keinen Ansatzpunkt. Möglicherweise greift Paulus auf Gen 21,9 zurück, wo die Septuaginta die Aussage, dass Ismael „umhertollte“ bzw. „Mutwillen trieb“ ergänzt durch „scherzend mit Isaak ihrem Sohn“. Dies wurde wohl von Paulus wie auch von den Rabbinen als Anfeindung Isaaks durch Ismael verstanden.23 Auf jeden Fall nimmt Paulus die Aufforderung Saras an Abraham aus Gen 21,10 auf, um deutlich zu machen, dass nicht die Kinder des Fleisches, also die Kinder des Berges Sinai, sondern die Kinder der Verheißung, also die Kinder des himmlischen Jerusalems die wahren Erben sind:

Verstoß diese Magd und ihren Sohn! Denn der Sohn dieser Magd soll nicht zusammen mit meinem Sohn Isaak Erbe sein.

Daraus folgert Paulus dann abschließend in Gal 4,31, dass seine Adressaten nicht Kinder der Sklavin, sondern Kinder der Freien, sind da ihnen die Verheißung zuteil ist. Ihnen ist somit die Freiheit der Kinder Gottes zuteil.

Die Argumentation in Gal 4,21-31 zeigt, wie Paulus auch die Freiheit der Kinder Gottes begründet. Sie ist zudem ein Beleg dafür, dass der Völkerapostel auch die allegorische Bibelauslegung kennt.

5. Die Auferstehung der Toten

Auf die Auferstehung der Toten kommt Paulus in zwei Texten zu sprechen: in 1 Thess 4,13-18 und in 1 Kor 15. Während Paulus in 1 Thess 4 auf ein Wort Jesu zurückgreift (vgl. v.15), für das es keinen anderen Beleg gibt, argumentiert er in 1 Kor 15 wieder von der Schrift her, wenn auch nicht in der konzentrierten Weise wie in der Rechtfertigungslehre.

Zunächst verweist Paulus in 1 Kor 15 auf die Auferstehung Jesu, zu deren Zeugen er sich selbst zählt (v.8-11). Dabei stellt er den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu jeweils als Erfüllung der Schrift dar:

3 Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift,
4 und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift

In v.3 nimmt Paulus das vierte Gottesknechtlied auf (Jes 53,4f):

4 Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.
5 Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.

in v.4 ist Hos 6,2 der Anknüpfungspunkt:

Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, am dritten Tag richtet er uns wieder auf, und wir leben vor seinem Angesicht.

Im Weiteren entwickelt Paulus dann aus der Auferstehung Jesu den Glauben an die Auferstehung der Toten. Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist auch Jesus nicht auferstanden. Zudem macht die Auferstehung Jesu nur Sinn, wenn auch die Toten auferstehen (v.12-19).

In v.21-22 stellt Paulus dann Adam und Christus archetypisch einander gegenüber:

21 Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten.
22 Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.

Auch wenn Paulus an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf die Schrift verweist, entwickelt er sein Verständnis von Christus als dem Ersten der Entschlafenen (v.20) aus seiner Kenntnis der Bibel. Grundlage dafür ist die Erzählung vom Sündenfall in Gen 3.

Diese Gegenüberstellung begegnet erneut in v.45-47 im Abschnitt über die Frage, welchen Leib der auferstandene Mensch haben wird:

45 So steht es auch in der Schrift: Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendig machender Geist.
46 Aber zuerst kommt nicht das Überirdische; zuerst kommt das Irdische, dann das Überirdische.
47 Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel.

Dabei spielt Paulus in v.45 erneut auf die Urgeschichte an, wo es in Gen 2,7 heißt:

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.

Abschließend zeichnet Paulus die Auferstehung der Toten als Erfüllung der Schrift (v.54-55):

54 Wenn sich aber dieses Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg.
55 Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?

Dabei handelt es sich in v.54b-55 um ein Mischzitat. V.54b greift den Anfang von Jes 25,8 auf:

Er wird den Tod verschlingen auf ewig.24

V.55 nimmt Hos 13,14 auf, wobei JHWH es dort ablehnt, Efraim aus der Unterwelt zu befreien:25

Tod, wo sind deine Seuchen? Unterwelt, wo ist dein Stachel?

Auch wenn Paulus in der Darlegung der Auferstehung der Toten im Vergleich zu seiner Argumentation in der Rechtfertigungslehre deutlich weniger auf die Schrift zurückgreift, so zeigt sich doch, dass im auch bei diesem zentralen Thema eine biblische Fundierung wichtig ist.

6. Der Apostel Paulus und die Wurzeln seines Glaubens

Die Darlegung hat gezeigt, dass Paulus immer wieder auf die Tradition seines jüdischen Glaubens zurückgreift. Es ist ihm wichtig, seine eigene Sendung aus der Schrift heraus zu fundieren, es ist ihm genauso wichtig zentrale Themen, wie am Beispiel der Rechtfertigungslehre, der Freiheit der Kinder Gottes und der Auferstehung der Toten gesehen, von seiner heiligen Schrift, also vom Alten Testament, her zu begründen. Diese Schriftbeweise geben seiner Verkündigung das rechte Gewicht und sichern seine Argumentation ab. Wer gegen ihn argumentiert, muss gegen die Schrift argumentieren. Sie machen deutlich, dass Paulus nicht seine eigenen Ideen verkündet, sondern das Wort Gottes. Sie zeigen auf, dass der „Neue Weg“, den Paulus verkündet, keine neue Erfindung ist, sondern die Erfüllung dessen, was in der Schrift bereits angelegt ist. Damit zeigt sich aber auch, dass Paulus ohne den Hintergrund des Alten Testaments nicht oder nur unvollständig verstanden werden kann.

1 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 161. >Text

2 Vgl. ebd., 6. >Text

3 Einen synoptischen Vergleich bietet Wick, Peter, Paulus, Göttingen, 2006, 65-74. >Text

4 Die biblischen Texte sind nach der Einheitsübersetzung zitiert. >Text

5 Vgl. die Bezüge von Jer 1,9 („Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund“) nach Dtn 18,18 („Ich will ihm meine Worte in den Mund legen“) und Jer 1,7 („Was ich dir auftrage, sollst du verkünden“) nach Dtn 18,18 („der soll ihnen alles sagen, was ich ihm befehle“), ferner zwischen Jer 28,15.17 und Dtn 18,20 (der Prophet, der nicht Gottes Wort verkündet, muss sterben) sowie zwischen Jer 28,9 und Dtn 18,21-22 (an der Erfüllung seiner Ankündigung zeigt sich der wahre Prophet). >Text

6 Vgl. ferner 2 Kor 1,1, sowie in den deuteropaulinischen Briefen Kol 1,1 und Eph 1,1 und in den Pastoralbriefen 1 Tim 1,1; 2 Tim 1,1 und Tit 1,1. >Text

7 Vgl. ferner Ez 2,3; Ri 6,14. >Text

8 Vgl. die häufige Verwendung bei DtJes: Jes 41,8.9; 42,1; 43,10; 44,1.2.21; 45,4; 49,3; 52,13; 53,11; ferner 54,17. >Text

9 Mose: vgl. Dtn 34,5; Jos 1,1.13.15; 8,31.33; 11,12; 12,6; 13,8; 14,7; 18,7; 22,2.4.5; 2 Kön 18,12; 2 Chr 1,3; 24,6; Neh 10,30; Josua: Jos 24,29; Ri 2,8; David: Ps 18,1; 36,1 >Text

10 Vgl. 2 Kön 9,7; 17,13.23; 21,10; Jer 7,25; 25,4; 26,5; 29,19; 35,15; 44,4; Ez 38,17; Sach 1,6. >Text

11 Auffallend ist, dass Josef Kentenich, der Gründer der Schönstatt-Bewegung, der viele seiner zentralen Themen von Paulus her arbeitet hat und immer wieder einlädt, zu diesem in die Schule zu gehen, gerade dem Rechtfertigungsgedanken wenig Raum gibt (vgl. Wolf, Peter (Hg.), In der Schule es Apostels Paulus. Ausgewählte Texte von P. Josef Kentenich, Vallendar, 2008). >Text

12 Vgl. Borse, Udo, Der Brief an die Galater (rnt), Regensburg, 1984, 121ff; Mußner, Franz, Der Galaterbrief (HThKNT IX), Freiburg/Br., 1974, 205ff. >Text

13 Borse, Galater, 121. >Text

14 Vgl. dazu Wick, Paulus, 47-57.  >Text

15 Ebd., 50. >Text

16 Hab 2,4 wird in leicht veränderter Form auch in Hebr 10,38 gebraucht. >Text

17 Vgl. Biberger, Bernd, Art. Nachkommen, WiBiLex, 200?, http://www.wibilex.de (Zugriffsdatum: ??.??.200?).  >Text

18 Vgl. Zeller, Dieter, Der Brief an die Römer (rnt), Regensburg, 1985, 95ff; Schlier, Heinrich, Der Römerbrief (HThKNT VI), Freiburg/Br., 1977, 120ff.  >Text

19 So auch in Gal 3,20.  >Text

20 Die Vulgata übersetzt diaqh,kh mit „testamentum“.  >Text

21 Die verschiedenen textkritischen Varianten sind aufgelistet bei Mußner, Galaterbrief, 322. Zur Diskussion vgl. ferner Borse, Galater, 169-171.  >Text

22 In ähnlicher Weise hält Paulus in Gal 3,29 fest, dass seine Adressaten Erben der Verheißung sind: „Wenn ihr aber zu Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung.“ >Text

23 Vgl. Borse, Galater, 176; Mußner, Galaterbrief, 329. >Text

24 So die Revidierte Lutherübersetzung, die näher am Text ist als die Einheitsübersetzung mit: „Er beseitigt den Tod für immer.“  >Text

25 Der vollständige Vers lautet: „Aus der Gewalt der Unterwelt sollte ich sie befreien? Vom Tod sollte ich sie erlösen? Tod, wo sind deine Seuchen? Unterwelt, wo ist dein Stachel? Meine Augen kennen kein Mitleid.“ Zur Frage, ob in Hos 13,14 tatsächlich eine Hoffnung auf Auferstehung vorliegt, vgl. Eberhardt, Gönke, JHWH und die Unterwelt (FAT II/23), Tübingen, 2007, 243-290.   >Text

 

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