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Donnerstag 25.04.2024, 00:37 Uhr
(c) 2024 Haus Moriah

 

Im Waisenhaus Oberhausen

Cöln, den 12. April 1894

„Hochwürdigster Herr Pfarrer Savels!

Es ist vollbracht, und ich kann wohl sagen: Es ist der schwerste Tag in meinem bisherigen Leben gewesen. Ich weiß, dass die Schwestern gut sind. Das Haus ist sauber und gepflegt und überall auf den Fluren, in den Treppennischen stehen Heiligenfiguren und hängen fromme Bilder. Ein wirklich christliches Haus! Die Ehrwürdige Mutter Oberin hat uns alles gezeigt: Es gibt einen großen Speisesaal mit langen Tischen und Bänken und einen Schlafsaal mit vielen Betten. Sie stehen alle neben-und hintereinander, ohne Tischchen oder Schränkchen, wo die Kinder etwas von sich lassen könnten. Es seien ja lauter ,armer Leute Kinder', hat die ehrwürdige Mutter erklärt. Um den Hof draußen ist eine hohe Mauer. Den Rest der Stadt sieht man von dort nicht. In der Stadt ist viel Industrie, hohe Schornsteine, Fabriken, Reihenhäuser, viel Ruß und Schmutz in der Luft. Mädchen und Jungen sind               
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getrennt auf zwei separaten Schulhöfen: In Reih und Glied standen sie da, alle wohl diszipliniert, in ärmlicher Kleidung, die Jungen mit kahlgeschorenen Köpfen. Es hat mich doch betroffen gemacht: die vielen traurigen Augen und die ernsten, blassen, mageren Kindergesichter!! Es hat mir fast das Herz abgedrückt. Gewiss, Hochwürden waren voller Zuversicht, dass es Josef hier gut haben würde, aber ich kann nicht beschreiben, wie schwer es mir ums Herz ist, Beim Abschied hielt er sich am Schrank vom Sprechzimmer fest und hat bitterlich geweint. Jettchen war dabei, Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da bin ich einfach mit ihm in die Waisenhauskapelle gegangen. Mutter Oberin hatte sie uns beim Rundgang durchs Haus gezeigt. Wir sind dann zu der Muttergottesstatue gegangen. Dort habe ich Josef einfach der Muttergottes anempfohlen und ihn Maria geweiht. Ich habe laut gebetet, dass sie für ihn von jetzt an mütterlich sorgen soll, ihm Mutter sein soll, weil ich das doch jetzt nicht mehr kann. Sie möge ihn erziehen! Damit sie nicht vergisst, dass ich ihr mein Kostbarstes, mein einziges Kind, mein Liebstes anvertraue, habe ich ihr mein einziges Schmuckstück, das ich habe, um den Hals gehängt, mein goldenes Kommunionkreuz. Josef ist ganz still geworden, ganz andächtig. Er war irgendwie ganz weg, schien mir.

Beten Euer Hochwürden doch für ihn und ein wenig auch für mich. Ich weiß nicht, wann und wie oft ich ihn besuchen kann und ob er Ferien bekommt und mich besuchen darf. Beten Hochwürden doch auch bitte dafür!

Aber ich will auch nicht versäumen, Ihnen für alle Sorge herzlich zu danken! Ich weiß, es geht nicht anders, ich weiß es ja!

In Dankbarkeit grüßt Euer Hochwürden ergebenst
Ihr Beichtkind Katharina Kentenich"


Wenn Josefs Mutter ihrem Beichtvater einen Brief von jenem Tag im Jahre 1894 geschrieben hätte, so ähnlich hätte er aussehen können. Über das Geschehen im Waisenhaus ist durch sie selbst allerdings nichts überliefert. Alles, was zur Vorstellung eines solchen Briefes beitragen konnte, entstammt Archivdokumenten und dem, was Josef Kentenich Jahre später selbst darüber erzählt hat. Denn das Ereignis in der Waisenhauskapelle muss so einschneidend für ihn gewesen sein, dass er ein Leben lang darauf zurückkam. Als er Jahre später seine Aufgabe als Spiritual im Internat Vallendar beginnt und erzieherische Verantwortung für die dortigen Schüler übernimmt, drängt es ihn sofort, den Jungen etwas von diesem Erlebnis am 12. April 1894 weiterzugeben, ohne jedoch zu verraten, dass es dabei um ihn selbst geht. Was in allen Berichten auffällt: Vom eigenen Abschiedsschmerz erzählte Josef Kentenich nichts, nur von dem der Mutter, in deren Leid er sich als Kind tief hineinversetzt haben muss. Er schilderte „ihre große Not", „ihre Herzensangst", „ihre Besorgnis" und die „widrigen Umstände" und „misslichen Verhältnisse", die sie zu diesem Schritt gezwungen haben. Kein versteckter Vorwurf, keine Bitterkeit, obwohl er viel gelitten hat ... Das Leid wurde offensichtlich überstrahlt von einer anderen Erfahrung, die noch eindrücklicher gewesen sein muss: die Marienweihe. Sie wurde zu einer Art Kernerlebnis seiner Kindheit, ja zu einem Schlüsselerlebnis seines ganzen Lebens. Josef Kentenich unterstrich später, in dieser frühen Weihe, die er persönlich tief mitvollzogen hat, gründe sein gesamtes Lebenswerk. Maria habe seitdem eine Schlüsselstellung in seinem Leben eingenommen: „Sie hat mich persönlich geformt und erzogen von meinem neunten Lebensjahr an." Von Kindheit an habe er immer kniend ein Gebet verrichtet, das er sich selbst gemacht hätte, und es komme ihm fast so vor, als habe Maria ihn danach erzogen: „Sei gegrüßt, Maria, um deiner Reinheit willen bewahre rein meinen Leib und meine Seele, öffne mir weit dein und deines Sohnes Herz. Erflehe mir eine tiefe Selbsterkenntnis und die Gnade der Beharrlichkeit und Treue bis zum Tod. Gib Seelen mir und alles andere nimm für dich. " Satz um Satz sei dieses Gebet über Jahre in ihm gewachsen.

Was war es denn, das über jener Marienweihe lag, das ihn so tief berührt hat und das solche Macht über sein Leben gewinnen konnte? Zweifelsohne hat Josef im Moment der Weihe die persönliche Erfahrung einer geheimnisvollen Wirklichkeit gemacht, die fortan noch mehr als bisher sein Leben bestimmte: Gott. Mitten im Schmerz der Trennung von der geliebten Mutter macht er durch Maria die Erfahrung einer ungeheuren Nähe Gottes: Gott ist da. Er liebt mich, ganz persönlich, auch wenn er Leid zulässt. In den Armen Marias bin ich sicher, so sicher wie das Kind auf ihrem Schoß. Das Erlebnis ist so stark, dass es ihn als Eindruck nie loslässt, auch in Krisenzeiten nicht. Spätere Hinweise deuten darauf hin, dass er durch Maria zutiefst erfahren hat, wie Gott wirklich ist. Es war die Begegnung mit dem „barmherzig liebenden Vatergott, der gar nicht anders kann, als uns namenlos lieb zu haben", wie er es später einmal formulierte.

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