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Samstag 20.04.2024, 07:13 Uhr
(c) 2024 Haus Moriah

Rezension

Dorothea M. Schlickmann,

Josef Kentenich, Ein Leben am Rande des Vulkans,

Herder-Verlag Freiburg 2019

 

Schlickmann - Kentenich
Die neue Biographie von Dorothea Schlickmann über den Gründer der Schönstatt-Bewegung beginnt überraschend mit einem starken Text von Friedrich Nietzsche. Erst bei interessierter Lektüre des bewegten und gefährlichen Lebens erschließt sich der daraus gewonnene Untertitel der Biographie: „Ein Leben am Rande des Vulkans“.  

Die promovierte und durch profunde Veröffentlichungen über die Gründungsgeschichte Schönstatts ausgewiesene Autorin hat in ihrem neuesten Buch eine höchst informative und lesenswerte Biographie von Pater Kentenich vorgelegt. Sie selber nennt diese in ihrem Vorwort eine „erzählende Biographie“. Durch den Verzicht auf den in ihren anderen Veröffentlichungen gewohnten Fußnotenapperat wird die umfangreiche Biographie von 342 Seiten gut lesbar. Gleichzeitig gibt die Autorin dem Leser die Zusage, dass erzählende Teile, fiktive Dialoge und Briefe eng an historische Dokumente und authentische Zeugnisse angelehnt sind. Die zahl-reichen Originalzitate von Josef Kentenich sind immer in Anführungszeichen gesetzt und durch Kursivschrift kenntlich gemacht. In meinen Augen ist es ein Gütesiegel, dass der renommierte Verlag Herder das Buch in sein Verlagsprogramm aufgenommen und in einer sehr ansprechenden Weise publiziert hat.

Der immense Stoff des übervollen Lebens von Josef Kentenich wird gut gegliedert in zehn Kapiteln dargeboten, die den durchaus verschiedenen Phasen dieses reichen Lebens entsprechen. In vielen kleinen aber durchweg belegten Erinnerungen werden Licht und Schatten seiner Kindheit festgehalten. Offen und ohne die Heimlichkeit wird über die uneheliche Geburt und ihre oft leidvollen Konsequenzen für die junge Mutter und das Kind gesprochen. Nach Kindheit im Haus der Großeltern und Schulbeginn in Gymnich verschlägt es den jungen Josef für zwei Jahre zusammen mit seiner Mutter nach Straßburg, wo er bei einem Onkel wohnt und zur Schule geht. Dann folgt die Zeit im Waisenhaus mit vielen leidvollen Erfahrungen von Heimweh und einer Erziehung, die ihm spürbar zuwider ist. In einem fiktiven Brief bringt die Autorin zur Sprache, was am Beginn dieser Zeit im Waisenhaus von Oberhausen vor der Marienstatue sich ereignet hat, und erschließt behut-sam, was die „Marienweihe des Neunjährigen“ für das weitere Leben bedeuten sollte. In diesem Waisenhaus geht er mit elf Jahren zur ersten heiligen Kommunion und äußert gegenüber der Mutter erneut den Wunsch Priester zu werden. Für ein uneheliches Kind war dies damals in einem Priesterseminar aber ausgeschlossen. Durch Pfarrer Savels, den Beichtvater der Mutter, wird ein Weg sichtbar über die Pallottiner, die Missionare für Afrika ausbilden. So führt den jungen Kentenich der Weg weiter nach Ehrenbreit-stein bei Koblenz. Wieder fängt die Autorin in erzählender Weise viele gut recherchierte Einzelheiten ein, die die innere Entwicklung und das Leiden an der vaterlosen Situation des begabten und sen-siblen jungen Josef erspüren lassen. Gleichzeitig zitiert sie sprechende Zeugnisse dazu aus seiner eigenen Feder.

Mit dem Beginn des Noviziates verschärft sich die Situation für den inzwischen 19Jährigen. Es folgt die Zeit der „Jugendkämpfe“, die ihn im wahrsten Sinn an den Abgrund führen, weshalb das Kapitel treffend auch „Am Abgrund“ überschrieben ist. Da ist zunächst die Konfrontation mit der damals durchweg üblichen aszetischen Ordensausbildung, die nicht von pallottinischer Spiritualität geprägt ist, sondern ganz von traditionellen Vorstellungen wie Abtötung, Selbstverleugnung und Weltfeindlichkeit. Die Biographie nennt viele Reibungspunkte in dieser Zeit des Noviziates. Unmittelbar danach folgt eine Zeit lebensbedrohlicher Erkrankung, die fast wieder die Entlassung aus der Gemeinschaft der Pallottiner mit sich gebracht hätte. Die Diagnose lautet auf Tuberkulose und macht eine Kur und Unterbrechung der Ausbildung notwendig. Mit Beginn des Studiums kommt für den hochbegabten Studenten die Auseinandersetzung mit dem Umbruch der neuzeitlichen Philosophie. Es ist im Kern die Frage nach der Wahrheit und ihrer Erkennbarkeit, wie sie seit Kant, Hegel und Nietzsche im Raum war. Er konnte und wollte sich nicht begnügen mit ein paar Zusammenfassungen, wie sie in der damaligen theologischen Ausbildung üblich waren. Er wollte sich der Auseinandersetzung stellen . . . . In ihm führte das zu wahnsinnigen Kämpfen und Auseinandersetzungen. Manche Professoren hatten offensichtlich Angst vor seinen Fragen und es kam dazu, dass einer seiner Professoren nach einer öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion sich dermaßen von ihm verletzt fühlte, dass er bei der Frage der Zulassung von Josef Kentenich zur Ewigen Profess mit Nein stimmte. Dies hätte fast das Ende für den Weg zum Priestertum bedeutet, wenn nicht P. Kolb als sein Beichtvater und Mitglied der Provinzleitung sich für eine Wiederholung der Abstimmung eingesetzt hätte. Am Ende blieb der Glaube für Josef Kentenich immer ein Wagnis und ein Sprung in die Arme Gottes verbunden mit der tragenden Erfahrung, dass Maria für ihn ein Halt im Glauben geworden war.

Sr. Doria
Am 8.7.1910 wird Josef Kentenich in Limburg zum Priester geweiht und es folgt ein weiteres Jahr des Studiums. An den Wochenenden wird er in der Umgebung für Gottesdienste und Beichten eingesetzt. Nach glänzendem Abschluss des Studiums fällt die Entscheidung, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht in die Mission geschickt werden kann. Wegen der Bedenken vor der Zulassung zur Profess wird er auch nicht zu einem weiteren Universitätsstudium zugelassen. Der Weg führt ihn nach Ehrenbreitstein als Lehrer für Deutsch und Geschichte. Es ist eine Zeit, wo er erste pädagogische Erfahrung macht und einen neuen Stil im Umgang mit den Schülern auf der Basis vollen Vertrauens praktiziert.

Danach folgt die Zeit als Spiritual in Schönstatt, wohin der junge Pater Kentenich von seinem Provinzial versetzt wird, um in einer Situation von „Revolution“ im dortigen neuen Studienheim den bisherigen Spiritual abzulösen. Hier bringt die Autorin in dichter Weise auf wenigen Seiten zu Papier, was Sie auf 248 Seiten in ihrem Buch „Herbststürme 1912“ nach ausführlichen Studien und Nachforschungen in den Archiven zusammengetragen hat. Ähnliches gilt für die Zeit der Gründung, die in ihrem Buch „Entscheidende Jahre“ auf über 700 Seiten mit unzähligen Zeugnissen belegt und dargestellt ist. Die meisten Inhalte dieser Kapitel sind den Mitgliedern der Bewegung gut vertraut, bieten aber für Interes-senten gute Einblicke und präzise Informationen. In der Lektüre erschließen sich viele Zusammenhänge und Wachstumsprozesse. In der gedrängten Darstellung werden der ungeheure Wagnischarakter und das vorsehungsgläubige Tasten des Gründers sichtbar.

Mit dem nächsten Kapitel treten wir ein in die Zeit des Nationalsozialismus und die sich anbahnende Auseinandersetzung mit einer glaubensfeindlichen Staatsmacht. Kentenich erkennt früh die Gefahr der braunen Ideologie und versucht besonders in Kreisen von Priestern und unter Frauen und Männern in pädagogischen Berufen Einfluss zu gewinnen und andere Akzente zu setzen. Die Biographie nennt konkrete Teilnehmerzahlen seiner Priester-Kurse und seiner Pädagogischen Tagungen in ganz Deutschland und der Schweiz in einer Größenordnung, die in der Öffentlichkeit bisher in keiner Weise bewusst sind. Er baut an einem inneren Widerstand und will Menschen von innen her gegen den Einfluss des Nationalsozialismus immunisieren und gerät so bald in die Über-wachung durch die Gestapo. Er schafft in dieser Zeit neue Lebenszellen, setzt auf eine neue Ehe- und Familienpastoral. Er baut weiter an seiner Gründung der Schönstätter Marienschwestern und gründet ein weiteres Säkularinstitut: die Frauen von Schön-statt.

In diese Zeit fällt auch die bewegende Geschichte von Frau Kahle, der evangelischen Gattin eines Professors an der Uni Bonn mit fünf Kindern, die aus christlicher Überzeugung in Zusammenhang der Kristallnacht jüdischen Freunden geholfen haben und danach massiven Repressalien der Nazis ausgesetzt waren. Sie sucht Hilfe bei Pater Kentenich. Er lässt sich darauf ein und weiß sie vom Selbstmord abzuhalten und zur Flucht zu ermutigen. Unter der gleichlautenden Überschrift: „Dem Wahnsinn die Stirn bieten“ findet sich die Geschichte von Franz Reinisch, der als einziger Priester im Dritten Reich den Fahneneid auf Hitler verweigert hat und dafür mit dem Tod bestraft wurde. Franz Reinisch gehörte zu den engsten Mitarbeitern des Gründers, zur sog. „Artusrunde“ im Bundesheim in Vallendar. Als Einziger hat Pater Kentenich ihn in dieser Gewissensentscheidung bestärkt und begleitet.

Dann folgt in der vorliegenden Biographie die Notiz über einen „Sonderbericht“ an das Reichssicherheitshauptamt aus dem Jahr 1935 und die Nachricht, dass bereits 1936 in Kreisen der Gestapo die Einschätzung ausgesprochen wurde, Schönstatt sei der größte Feind des Nationalsozialismus. Josef Kentenich reagiert nicht ängstlich, aber er mahnt zur Vorsicht und bereitet seine Mitar-beiter auf Verhöre und auf Gefangenschaft vor. Als Ersten - unmittelbar nach dem Attentat auf Hitler - trifft es den Diakon Karl Leisner, der zu einer Schönstatt-Theologengruppe gehörte. Ihm, (der inzwischen seliggesprochen ist), folgen viele auf dem Weg ins KZ: P. Josef Fischer, Pfarrer Josef Böhr, die Kapläne Heinz Dresbach und Hans Rindermann, Vikar Heinrich König, Pater Albert Eise. Von den Frauen von Schönstatt Lotte Holubars und Maria Hilfrich und P. Richard Henkes, dessen Seligsprechung unmittel-bar bevorsteht.

Nach der Schilderung, wie es zur Verhaftung von P. Albert Eise kam, folgt in der Biographie der Bericht über das zweifache Auf-tauchen der Gestapo im Bundesheim in Schönstatt und über den Weg von Pater Kentenich zum Gestapo-Hauptquartier in Koblenz. Gut belegtes Wissen über diese Ereignisse wird wiederum leicht lesbar in erzählender Weise eingebracht. Nach kurzem Verhör, ohne Begründung und ohne Angabe von Dauer und Art der Strafe wird er abführt und in einem Tresor der früheren Bank in „Dunkelhaft“ gesperrt. Wo andere Gefangene oft nach kurzer Zeit auf-gegeben haben oder gar durchgedreht sind, beginnt er zu singen, Rosenkranz zu beten und Betrachtung zu halten. Nach über vier Wochen wird er ungebrochen aus der Dunkelhaft entlassen und ins Gefängnis in der nahen Karmeliterstraße verlegt. Hier im ehe-maligen Karmelkloster ist er neben der Zelle von P. Eise eingekerkert, bis dieser ins KZ nach Dachau verlegt wird. Bald gewinnt er das Vertrauen eines der Gefängniswärter, durch den Kontakt zu seinen Marienschwestern im Brüderkrankenhaus und nach Schönstatt möglich wird. Später gibt es einen zweiten Gefängniswärter, der beherzt viel Post und andere Dinge z.B. für die Zeleb-ration zwischen Schönstatt und dem Gefängnis besorgt. P. Kentenich beginnt täglich zu zelebrieren, was bei Todesstrafe verbo-ten ist. Bewegend ist die Geschichte um den „Christkindbrief“ ei-ner jungen Schwester, der ins Gefängnis geschmuggelt wird. Er enthält den kindlichen Wunsch, dass das Christkind den „Vater“ nach Hause bringt. Pater Kentenich antwortet und weckt damit in der Folgezeit ein anhaltendes geistliches Streben. Es ist ein starkes Zeugnis der inneren Verbundenheit des Gründers mit seinen Schwestern und für seine spirituelle Wachheit und Lebendigkeit. In die Zeit im Karmelgefängnis fällt dann auch die Entscheidung für die Verlegung nach Dachau. Die Schwestern hatten alle Hebel in Bewegung gesetzt, diese Verlegung zu verhindern, doch er kommt beim Feiern der Eucharistie zu der Entscheidung, den angebotenen Termin einer zweiten ärztlichen Untersuchung im Blick auf Lageruntauglichkeit verstreichen zu lassen. Was wohl vielen auch in der Schönstatt-Bewegung nicht bekannt war ist, dass be-reits zu diesem Zeitpunkt leitende Schwestern und der Gründer in großer Sorge um die Gemeinschaft waren, weil die damalige Generaloberin Anna der Aufgabe bei den Marienschwestern offen-bar nicht gewachsen war. Damit war die Entscheidung offensichtlich noch viel schwerer als ohne diesen Hintergrund.

Dann folgt der Transport nach Dachau im Viehwagon über Frank-furt und Würzburg, immer wieder bewacht von SS und Hunden. Fahrt und Ankunft im KZ werden auch dieses Mal erzählend wiedergegeben aber durchweg in Treue zu belegten Einzelheiten. Hilfreich in der Darstellung Dachau-Zeit ist auch das Wissen um die verschiedenen Teile des riesigen Lagers und die unterschiedlichen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten. Der Autorin gelingt es, in dichter und gedrängter Sprache die Situation des KZ Dachau realistisch vor Augen zustellen und die Ziele der SS und Folgen der verschiedenen Maßnahmen unter den Gefangenen ins Bewusstsein zu heben. Sie macht verständlich, wodurch unter den Gefan-genen auch Neid und Hass entstehen konnten. Sie zeigt, was Willkür und Brutalität, was Angst und Hunger aus dem Menschen macht.

Mitten in diesen unmenschlichen Bedingungen, die den Menschen alle Würde und Freiheit nehmen sollten, hat die Biographie immer wieder Josef Kentenich im Blick und versucht nachzuzeichnen, wie er mit der Realität des KZ umgegangen ist, und zeigt seinen Mut in konkreten Reaktionen. Die Biographie weiß um Begegnungen und Kontakte mit bekannten Persönlichkeiten, sie benennt mit seinen eigenen Worten Erfahrungen und Einschätzungen des KZ. Sie berichtet von den Paketen, die von der Lagerleitung nach Auftreten der Hungerruhr erlaubt wurden, die er erhielt und im Kreis der Mitbrüder, die sich um ihn zusammengeschlossen hat-ten, verteilte. Die Autorin beschreibt seine Intentionen und Initia-tiven im Blick auf die Inspiration seiner Gründung und deren Aus-gründung. Es kommt im KZ sogar zur Gründung einer Brüderge-meinschaft und einer Gemeinschaft für Familien, sowie zur Gründung der Schönstätter Internationalen. Sie berichtet von seinem Entschluss, verbotenen Briefkontakt (Schwarzpost) aufzunehmen, und schreibt von seiner Entscheidung, ganze Bücher in Versform zu diktieren, um aus der Ferne seine Gründung zu inspirieren und zu leiten. Mitgefangene haben ihm deshalb aus verständlicher Angst damals und später viele Vorwürfe gemacht. Im Nachhinein ist aber festzuhalten, dass dadurch niemand im Lager zu Schaden kam. Er wusste sich im Glauben zu diesem gefährlichen Wagnis gedrängt und vertraute auf Maria, dass sie dafür sorgt, dass nichts passiert.

Im Frühjahr gibt es erste Anzeichen für ein Ende, die Front rückt näher. Unter den Gefangenen kreisen Gerüchte und wachsen Ängste über Planungen der SS-Lagerleitung. Dann aber gibt es erste Freilassungen. Auch Pater Kentenich wird freigelassen, noch bevor die Amerikaner das Lager insgesamt befreien. Es folgen Tage auf dem Schwäbischen Alb bei Pfarrer Kulmus, den er schon lange kennt. In dessen Gemeinde trifft er nach vier Jahren die ersten Marienschwestern. Jeden Tag feiert er die Messe und versucht, die Leute nach all den vielen schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Tod zu trösten. Dann geht der Weg zurück nach Schönstatt, wo er am Pfingstsonntag, den 20. Mai 1945 ankommt und aufs herzlichste empfangen wird.

Doch er ist nicht gekommen, um sich auszuruhen und sich feiern zu lassen. Er hat noch große Pläne. Schon im KZ hatte er die Mit-brüder gewinnen wollen für den inneren Wiederaufbau der Kirche in Deutschland. Er sieht die große Aufgabe der Aufarbeitung des Vergangenen und der unendlichen Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat. Er sieht die unendliche Not, die alle Kräfte bean-sprucht. Er sieht die Aufgabe, Heimat zu schaffen. Er ist damit engagiert, seine Gemeinschaften auszugründen, die er vor und während der Zeit des KZ gegründet hat. Er ist befasst mit der Gründung einer Gemeinschaft von Diözesanpriestern und der Gemeinschaft der Frauen von Schönstatt. Satzungen sind zu ent-wickeln und Leitungen einzusetzen. Die Zeit der Gefangenschaft und des Einsatzes mit Gebet und Opfer für den Gründer hat die Bindung an ihn vertieft. Da ist Gefolgschaft um ihn gewachsen. Es sind Vorgänge, die gar nicht leicht zu fassen sind und die sich in verschiedenen Gemeinschaften sehr selbständig entwickeln. Die Autorin benennt auch Schwierigkeiten, die durch eine Schwester entstehen, die offensichtlich ihrer großen Leitungsaufgabe nicht gewachsen ist, wie sich nach und nach zeigt. Ich stehe mit großem Respekt vor der Ehrlichkeit, mit der Schwierigkeiten hier und auch später im Buch angesprochen werden. Dies hilft die Entwicklung besser zu verstehen und bürgt mir für die Geschichtstreue der vorliegenden Biographie. Das ist mir auch wichtig für die folgen-den Kapitel, die in bisherigen Veröffentlichungen oft mit viel Zurückhaltung und Vorsicht behandelt wurden.

Der Gründer sieht die Aufgabe, die kirchenrechtliche Anerkennung seiner neuartigen Gemeinschaften voranzubringen. Er wollte ja keine Neuauflage der Orden, er hatte anderes im Sinn. Durch das Schreiben Provida Mater von Papst Pius XII über die Säkular-institute (1947) öffnet sich eine Spur, die er beherzt nutzt und so die kirchenrechtliche Anerkennung der Marienschwestern errei-chen kann. Es geht in Rom schneller als in Trier, was dort eher zu einer gewissen Verstimmung führt. Es war nicht das einzige, was gegen Schönstatt und seinen Gründer im Raume stand. Dorothea Schlickmann nennt auf Seite 235 vieles beim Namen. Josef Kentenich duckt sich nicht weg. Er will, dass sich der Bischof von Trier und die Bischofskonferenz mit Schönstatt befassen. Er setzte darauf, dass es zu einer „Studienkommission“ komme, wo man sich mit dem, was in Schönstatt geworden und gewachsen war, auseinandersetzt. Er hatte Weihbischof Stein eingeladen, aber statt einer „Visite“ kam es zur „Visitation“ mit all dem, was dieses Wort auslöst an Verdächtigung, ob Schönstatt überhaupt auf dem Boden der Kirche stehe. Die Ankündigung einer diözesanrechtlichen Visitation binnen fünf Tagen trifft in Schönstatt ein und der Gründer ist im Ausland. Man versteht in Schönstatt weder die Eile noch den Ton, mit dem die Visitation eröffnet wird. Der Gründer schreibt in der Zeit der bischöflichen Visitation neben seinen Ex-erzitien in Argentinien Stellungnahmen zu verschiedenen Fragen. Der Schlussvortrag des Visitators bestätigt zunächst Schönstatt sei ein Werk Gottes und stimme mit der kirchlichen Lehre überein. In der Praxis gebe es aber auch Missstände und Gefahren. Zwei Monate später kommt ein Brief des Weihbischofs, der zwar die Bestätigung festhält, Schönstatt stehe dogmatisch und theolo-gisch ganz auf dem Boden der katholischen Kirche, aber im päda-gogischen Bereich erhebliche Beanstandungen geltend macht zu-sammen mit einem vernichtenden Urteil über die Gemeinschaft der Marienschwestern, über engere Mitarbeiter der Bewegung und gegen den Gründer. Jetzt sieht sich der Gründer gezwungen zu handeln. Er beginnt eine ausführliche Antwort, die bis heute als „Epistola perlonga“ bekannt ist. Seine Antwort setzt ganz grundsätzlich an und wird in Trier als Belehrung verstanden und als Kri-tik gegenüber dem Bischof. Bald folgt durch Erzbischof Bornewasser eine Aufstellung von acht Forderungen an die Schönstatt-Bewegung mit Untersagung von bestimmten Begrifflichkeiten in der Bewegung. Das Gebetbuch „Himmelwärts“ sei zurückzuziehen und jede weitere Veröffentlichung der Dachau-Gebete wird ver-boten. Der Aufbau von Schönstatt-Gruppen in den Diözesen wird von der Erlaubnis des Ortsordinarius abhängig gemacht.

Auf der Rückreise von Lateinamerika über Rom nimmt Pater Kentenich an der Seligsprechung von Vinzenz Pallotti teil und trifft sich in Quarten (Schweiz) mit der Generalleitung der Marien-schwestern zu wichtigen Beratungen. Dabei bieten die Schwes-tern der Generalleitung und auch die Generaloberin Sr. Anna dem Gründer ihren Rücktritt an. Die Biographie bringt die folgende Verschärfung in der Visitation damit in Verbindung, dass Sr. Anna sich daraufhin beim Bischof beschwert und dass der Bischof durch die Briefe des Gründers verletzt ist. In den folgenden Seiten der Biographie zeigt die Autorin die weiteren Schritte zur Aposto-lischen Visitation auf, die Weihbischof Stein über die Religiosenkongregation in Rom erwirkt, was die Einschaltung des Heiligen Offiziums nach sich zieht. Sie spricht dabei auch offen über die Rolle von vier Schwestern ihrer Gemeinschaft darunter auch Sr. Anna, die mit ihren Anschuldigungen diese Entwicklung in Gang gebracht haben. Als Visitator wird der Jesuit und Dogmatik-Professor Tromp ernannt. Beim Nachgespräch über die Visitation wird deutlich: man will Pater Kentenich von Schönstatt und sei-ner Gründung weg haben. Das Heilige Offizium drängt darauf, dass er freiwillig von allen Ämtern zurücktritt, sonst würde er nur noch im Sarg nach Europa zurückkehren. Seine Antwort lautet: Freiwillig nie! Wenn er geschickt wird sofort! Die Biographie zeigt die bittere und dunkle Situation und ihre menschliche Aussichtlo-sigkeit.

Dann folgen 14 Jahre des Exils. Über die Schweiz geht es nach Rom. Dort entscheidet sich sein Aufenthalt für die Zeit des Exils in der Provinz der Pallottiner in USA. Bis er die Papiere für die Einreise dort bekommt, soll er sich in Südamerika aufhalten. So ergibt sich ein halbes Jahr für Argentinien und Chile bis zur Einrei-se in die USA im Juni 1952. Dort ist er dem Provinzial der Pallottiner unterstellt, der ihn sehr schätzt und ihn für Exerzitien und Terziatsschulung für die Mitbrüder einsetzt. Ja es wird sogar ein Schönstatt-Heiligtum in unmittelbarer Nähe seiner Unterkunft gebaut. Wieder werden in erzählenden Passagen viele gut recherchierte Informationen über die Zeit in Milwaukee eingebracht. Man erfährt einiges über die schwierige Situation Schönstatts in Deutschland, wo eine „Einebnung“ der Schönstattgemeinschaften und der ganzen Bewegung versucht wird. Man erfährt von unter-schriftsreifen Plänen zur Auflösung der Gemeinschaft der Marienschwestern. Die Biographie nennt offen immer neue Vorwürfe und Anklagen gegen den Gründer bis hin zur Behauptung, er habe uneheliche Kinder, habe einen Ödipuskomplex, er sei Freudianer. Es wird deutlich, wie immer neue Dekrete aus Rom den Wirkkreis Kentenichs einzuschränken versuchen. Er nutzt alle Möglichkei-ten, die ihm bleiben, zu Gesprächen und Kontakten und zum Schreiben.

Schließlich wird das Exil zu einer Zeit, in der viele ihn als Pfarrer der deutschen Gemeinde erleben können, ohne dass sie um die Geschichte der Visitation und des Exils wissen. Er ist dort Seelsorger mit Leib und Seele. Er predigt Sonntag für Sonntag, steht zur Beichte zur Verfügung, feiert Feste mit den Leuten. Viele erleben ihn und sein Verstehen und seine Liebenswürdigkeit. Es gab eine Familiengruppe um ihn, die sich wöchentlich traf. Sie fühlen sich verstanden und finden durch ihn zu einem Leben mit Gott im Alltag der Familie.

Doch dann kam die Wende in der Zeit des Konzils. Kardinal Frings und drei Bischöfe aus dem Ausland hatten sich an Papst Johannes XXIII gewandt und erreicht, dass die Angelegenheit Schönstatt vom Heiligen Offizium an die Religiosenkongregation übergeben wurde. Nach der Wahl von Paul VI. kam die Angelegenheit neu ins Rollen. Kardinal Höffner wurde Schirmherr des Schönstattwerkes und die Deutsche Bischofkonferenz sprach sich für eine Verselb-ständigung des Schönstattwerkes aus, was der Heilige Stuhl zum 50. Jahrestag der Gründung verfügte. In Rom gab es bereits im Juni 1965 Überlegungen, Pater Kentenich von Milwaukee nach Rom zurückzurufen.

Das letzte Kapitel ist mit „Heimkehr“ überschrieben. Damit fasst die Biographie die Rückkehr aus Milwaukee und den Heimgang des Gründers in ein Kapitel. Ein bis heute nicht vollständig geklär-tes Telegramm vom 13. September 1965 ruft den Gründer nach Rom. Er bricht aus den USA auf, aber in Rom will niemand das Telegramm abgeschickt haben. Ja es ruft bis in die höchsten Krei-se des Vatikans und im Generalat der Pallottiner Verärgerung her-vor. Das Telegramm bringt noch einmal höchste Gefahr für die Bemühungen um die Heimkehr des Gründers. Doch dann kommt es im Vatikan zur Entscheidung, er muss nicht mehr zurück nach Milwaukee und sein Fall wird vom Offizium an die Religiosenkon-gregation übergeben. Damit sind die Dekrete des Heiligen Offizi-ums aufgehoben. Pater Kentenich kommt am 24.12.1965 nach Schönstatt zurück. Es folgen drei randvolle Jahre inmitten seiner Gründung, die er für unendlich viele Begegnungen und zur Ausgründung der Bewegung nutzt. Er stirbt am 15. September 1968 nach der ersten Eucharistiefeier in der neuerbauten Anbetungs-kirche, wo er am Ort seines Heimgangs zum Vater im Himmel auch beigesetzt wird. Auf seinem Sarkophag stehen die Worte DILEXIT ECCLESIAM. Die Biographie lässt erkennen, dass ihm diese Liebe zur Kirche nicht leicht gemacht wurde.

Dr. Peter Wolf

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Josef Kentenich
Ein Leben am Rande des Vulkans

von Dorothea M. Schlickmann (Autor/in)

Die Gründungsgeschichte einer weltweiten Bewegung

Mit zahlreichen Abbildungen und Zeittafel

Verlag Herder - 2. Auflage 2019 - Gebunden - 344 Seiten

ISBN: 978-3-451-38388-5

24,00 €

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