2 DER BEGRIFF DER HEIMAT IN THEOLOGISCH-ANTHROPOLOGISCHER PERSPEKTIVE
2.1 Neuentdeckung des Phänomens „Heimat“
„Sollte die CSU die Wahl am 15. September gewinnen, soll ein Ministerium für Heimat und Selbstverwaltung geschaffen werden, kündigte Ministerpräsident Seehofer […] an.“ Ob sich diese Aussage von Horst Seehofer auf das Ergebnis der Landtagswahl ausgewirkt hatte, sei der politischen Diskussion überlassen. Dass jedoch das Phänomen „Heimat“ (nicht nur) in Deutschland in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewann, und dass diese Entwicklung – unter Berücksichtigung der Verschiebung der Akzente, die das Begriffsfeld „Heimat“ charakterisieren – sich auch heute fortsetzt, wird von vielen Autoren bestätigt. Wo liegt der Grund dafür?
Das deutsche Wort „Heimat“ ist seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar. Es wird von dem Nomen „Heim“ abgeleitet, das zunächst einen Landstrich bezeichnete, sich aber später auf ein Gehöft und weiter nur auf ein Haus einschränkte. Die Bedeutung des Heimatbegriffs blieb jedoch unbestimmt. Als das im 16. Jahrhundert verschwundene Substantiv „Heim“ im 18. Jahrhundert aus dem englischen „home“ wieder in die deutsche Schriftsprache eingeführt wurde, nahm infolgedessen der Begriff „Heimat“ eine weitere Fülle von Bedeutungen an. „Heimat“ wurde v.a. zum Ausdruck für das Elternhaus und den damit verbundenen Besitz einer Familie, für den Geburtsort eines Menschen, für einen festen Wohnsitz. Im religiösen Kontext wurde die „Heimat im Himmel“ v.a. unter eschatologischer Perspektive gedeutet. Im Zuge des deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff „Heimat“ romantisiert und stand in engem Zusammenhang mit „Vaterland“. In der Anfangsphase des Nationalismus hatte das Heimatbewusstsein eine wichtige einende Funktion für ein in viele Kleinstaaten geteiltes Deutschland. Später wurde der Heimatbegriff durch die nationalsozialistische Ideologie zum Zweck der Ausschließung und Abwertung des „Fremden“, des „Anderen“ vereinnahmt. Einen ähnlichen Missbrauch erlitt der Ausdruck „Heimat“ während der Zeit der kommunistischen Herrschaft im Osten. Als Gegenreaktion auf die schweren Umstände der Nachkriegszeit erschienen in Westdeutschland die sog. „Heimatfilme“, die ihre Blütezeit in den 1950er Jahren erlebten. Ihre Hauptaufgabe war, die sozialen Folgen des Zweiten Weltkriegs auf idyllische Art aufzuarbeiten und die Zuschauer, wenigstens für eine kurze Zeit, in eine heile Welt zu entführen. Der Heimatbegriff erhielt einen funktionalen Sinn, indem er auf oberflächliche Art und Weise positive Emotionen des Menschen wecken sollte. Dadurch wurde er jedoch zum Kitsch.
Das hat sich seit Ende der siebziger Jahre allmählich verändert. In der heutigen pluralistischen Gesellschaft zeichnet sich ein pluralistischer Heimatbegriff ab, der sehr viele Assoziationen hervorruft und neue Bedeutungen annimmt. Derzeitige soziale Faktoren der globalisierten Gesellschaft (nicht nur) in Deutschland, wie große Mobilität, Urbanisierung, wachsende Anonymität, Differenzierung und Pluralisierung der Lebensformen, Prozess der Individualisierung, Verlagerung mancher Lebensvorgänge in die virtuelle Sphäre der modernen Kommunikationsmittel, Zusammenlegung der Pfarreien zu größeren pastoralen Einheiten im kirchlichen Bereich usw., tragen dazu bei, dass die grundlegende menschliche Sehnsucht nach Heimat, Geborgenheit und Zugehörigkeit wächst. Durch die aktuellen von Gewalt geprägten Konflikte in vielen Staaten der Welt, besonders durch den Krieg in Syrien, verlieren täglich viele Menschen ihre Heimat und werden zur Migration gezwungen. Viele Familien werden auseinandergerissen. Damit hängt die wachsende Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union zusammen, die weitreichende Folgen für die Migrationspolitik und für den Prozess der Integration der Immigranten (also ihrer „Beheimatung“) hat. Es ist deutlich, dass heutzutage das Phänomen „Heimat“ in vielen Regionen der Welt an Relevanz gewinnt. Schließlich gehört die Frage „Kde domov můj?“ („Wo [ist] meine Heimat?“) zu den Grundfragen des menschlichen Daseins. Möglicherweise ist eine ehrliche und tiefgehende Antwort schwieriger als je zuvor. Denn die Frage nach Heimat kann - entweder oder zugleich - eine Frage nach der eigenen Identität, nach Zugehörigkeit, nach stabilen Beziehungen, nach wahrem Frieden, nach Freiheit oder nach der Gegenwart Gottes (…) sein. Eine erschöpfende Antwort wird der Mensch bis zum Ende seines Lebens wahrscheinlich nicht finden. Eher wird er sich diese Frage immer neu stellen müssen. Denn die Heimat des Menschen ist keine Konstante, wie auch das menschliche Leben keine Konstante ist. Sie ist vielmehr ein Prozess, ein Vorgang in dem sich schnell verändernden individuellen und gesellschaftlichen Leben.
Das Phänomen „Heimat“ erfasst den ganzen Menschen und betrifft sein existenzielles Bedürfnis. Es bildet eine „geistig-psychosomatische Ganzheit“. Deshalb ist es auch nicht möglich, eine klare Definition des Heimatbegriffs zu geben. Gebhard Deissler stellt fest: „Die Herausforderung des Heimatbegriffs besteht in seiner transdisziplinären Multidimensionalität und seinem grundlegenden Charakter.“ Weil es „keine allgemeingültige ‚eigentliche‘ Bedeutung von ‚Heimat‘“ gibt, werden, so weit wie möglich, verschiedene Bezüge zu diesem Phänomen im interdisziplinären Gespräch oder unter semiotischer Perspektive hergestellt. Der Missbrauch des Heimatbegriffs durch verschiedene diktatorische Systeme mahnt uns, den Ausdruck „Heimat“ zu verengen.
„Heimat ist darum als ein Symbolbegriff zu verstehen, der Grundbedürfnissen entspricht, um die gestritten werden muss. […] Wie ein Blick auf andere Sprachen zeigt, erschöpft sich die Rede von Heimat idealerweise nie in festgelegten Bedeutungen und Verengungen, sondern erschließt sich je neue Bedeutungsfelder, die den Wunsch nach Zugehörigkeit im Rahmen freier Selbstgestaltung ausdrücken sollen.“
Andreas Wollbold prägt in diesem Zusammenhang den Ausdruck „Wahlheimat“, um die zwei an sich entgegengesetzten Pole Freiheit und Identität, welche die pluralistische Gesellschaft charakterisieren und in deren Wechselwirkung sich das Leben des Menschen von heute abspielt, zugleich zur Sprache zu bringen. In seiner Studie geht er der Frage nach, ob es eine Heimat gibt, die Freiheit und Identität gleichzeitig verwirklichen lässt, ohne dabei der Gefahr der Zersplitterung in kleine, individualistisch geprägte „Einzelheimaten“ zu unterliegen. Um diese Frage zu veranschaulichen, benutzt er das Bild eines gemeinsamen Hauses zum Leben:
„Was Heimat idealerweise leisten könnte, nämlich ein gemeinsames Haus zum Leben bereitzustellen, ist in der Gefahr, in viele kleine Appartements zu zerfallen. Dagegen müsste ein Haus zum Leben immer zweierlei bieten. Es soll ein Haus [Hervorhebung A.W.] sein, also Bedeutung stiften und ein Angebot von Sinn und Beziehung für seine Bewohner machen – also Heimat sein. Und es soll ein Haus zum Leben [Hervorhebung A.W.] sein, also Sinn und Beziehungen so darbieten, dass Menschen sich selber in ihnen wiederfinden können.“
Der Begriff „Heimat“ unterliegt in diesem Zusammenhang einer allgemeineren
„Vorstellung vom Sinn- und Beziehungsgefüge […]. Sie drückt zugleich aus, dass der Mensch in der Suche nach Heimat nicht bloß als Naturwesen erscheint, das durch Räumlichkeit und Orientierungsverhalten geprägt ist, sondern ein personales Wesen, das sich selbst an diesen Bedingungen entwirft.“
Diese Aussage unterstreicht die Prozesshaftigkeit, auf die der Ausdruck „Heimat“ angewiesen ist. Das Bewusstsein von dem, was Heimat ist, erlangt der Mensch oft nur dann, wenn er aus der „Fremde“ zurückkommt. „Die Ankunft aus der Fremde geschieht, wenn Menschen das Gefüge ihrer Herkunft als schützend und förderlich erleben, sich in ihm wiederfinden und ihm als Raum ihrer Möglichkeiten zustimmen können […].“ David Brähler macht darauf aufmerksam, dass ein solcher Vorgang v.a. bei der heutigen jüngeren Generation auf enorme Schwierigkeiten stößt, weil ihnen die Grunderfahrung einer seelischen Beheimatung fehlt, oder weil sie aufgrund des Mangels an orientierungsstiftenden Fundamenten inzwischen verlorengegangen ist:
„Die Grunderfahrung einer ‚ontologischen Bodenlosigkeit‘ vieler in den westlichen Gesellschaften geht mit einer Zwangs-Freiheit [Hervorhebung D.B.] einher, sich – individuell, echt und stimmig – in einer Serie von Projekten, in denen das eigene Leben abläuft, selbst Sinn, Weltanschauung und Identität schaffen zu müssen [Hervorhebung D.B.]. […] Das Bild, wonach sich die Subjekte als Aktanten auf einer so nie da gewesenen Zeitbühne erleben und ihnen Drehbücher gelingender Biographie heute fehlen, erklärt die hohen Kosten an sozialer und kultureller Ungewissheit, moralischer Widersprüchlichkeit und großer Zukunftsunsicherheit, die junge Menschen bei dieser unverzichtbaren, aber risikoreichen Chance der Selbsteinordnungsarbeit zahlen müssen und die teilweise über ihre Bewältigungskapazität gehen.“
Diese Entwicklung führt zum sozio-kulturellen Zustand der Identitätsdiffusion. Damit ist die wachsende Unfähigkeit junger Menschen zu langfristigen Entscheidungen verbunden. Ihre Generation wird als „Generation Maybe“ bezeichnet. Wollbold fasst die Konsequenzen dieses Phänomens wiederum mithilfe seines Bildes vom Haus zum Leben zusammen:
„Warum werden sie [gemeint sind die Menschen] in dieser Welt nicht heimisch? Ein Haus soll feststehen, um einen Raum zum Leben bereitzuhalten. Wenn das Haus zur ständigen Baustelle wird, auf der jeder Umbau möglich ist, dann wird doch eines darin unmöglich: das Leben. Wer sich jede Wahl offenhält, verliert die Geborgenheit im Gewählten.“
Wie bereits angedeutet, haben sich in der letzten Zeit neue Formen der Heimatlosigkeit entwickelt, welche die Sehnsucht der Menschen nach Beheimatung heute auf neue Weise aufleben lassen. Das Phänomen „Heimat“ erlebt eine Neuentdeckung. Nicht zufällig gewann 2004 der Ausdruck „Heimat“ den vierten Platz unter den meistgenannten deutschen Worten (im Inland) und der Ausdruck „Geborgenheit“ den zweiten Platz im Wettbewerb um das schönste deutsche Wort. Daraus wird ersichtlich, dass die Suche nach Heimat als „Sinn- und Beziehungsgefüge“ für den Menschen der heutigen pluralistischen Welt, die eine Unsumme an Lebenskonzepten und –möglichkeiten bietet, mit großen Herausforderungen verbunden ist. Der „Wunsch nach Zugehörigkeit im Rahmen freier Selbstgestaltung“ eröffnet dem Menschen eine neue Chance zum gelingenden Leben. Um jedoch diese Chance ergreifen zu können, muss der Mensch zuerst eine gute Balance zwischen zwei Grundauffassungen der Freiheit finden: der Freiheit von (etwas) und der Freiheit für/zu (etwas).
2.2 Reflexionen zum theologisch-anthropologischen Heimatverständnis
„Je tiefer das Phänomen der Heimat über seine dinghaften Bezüglichkeiten hinaus auf seine geistige und seelische Wirklichkeit hin verfolgt wird, um so klarer wird, dass damit eine Grundverfassung des Menschen angerührt ist. Die soziologische Heimat und deren Notwendigkeit zu einem lebenstüchtigen Leben ist nur ein Symptom für die metaphysische Heimatbedürftigkeit des Menschen.“
Ein Mensch, der nur innerhalb diesseitiger Deutungskategorien sein Leben zu verwirklichen versucht, mag eine solche These äußerst kritisch betrachten. Er wird darüber vielleicht am Ende seines irdischen Lebens tiefer nachdenken. Anders ist es bei einem Menschen, der sich mit der Frage nach dem Jenseits während seines Lebens auseinandersetzt. Alfred Delp kommt bei seinen Überlegungen zu folgendem Ergebnis: „Heimat, wie sie sich uns stufenweise erschlossen hat, steht in einer tiefen und ursprünglichen Beziehung zu Religion.“ In diesem Zusammenhang prägt Delp folgende Auffassung von Religion: „Die Rückbindung (religio) des Menschen auf die tragenden Gründe findet ihre letzte Tiefe aber erst eben in der – Religio, in der der Mensch tatsächlich heimfindet zu einer letzten Geborgenheit und Sicherheit.“ Wenn diese Aussage aus dem Rahmenkonzept, in dem sich Delp bewegt, herausgenommen wird, und der Akzent auf die Religion selbst verschoben wird, kann ein solches Verständnis auf große Schwierigkeiten stoßen. Denn eine solche Auffassung der Religion betont zwar den Rückbezug des Menschen auf ein Sinn- und Beziehungsgefüge, beachtet aber wenig die Realität des Spannungsverhältnisses zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit (Verwurzelung, Geborgenheit) und dem Rahmen freier Selbstgestaltung, wie sie bereits im Hinblick auf das Heimatphänomen beschrieben wurde. Ein solches Religionsverständnis führt dann zu ihrer Selbstbezogenheit, wodurch sie zum Selbstzweck und einer gefährlichen Ideologie werden kann. Eine Lösung für das oben genannte Zitat könnte die Ersetzung der Präposition „in“ durch die Präposition „durch“ sein, denn dann wäre der Akzent auf die Bewegung zu einem Ziel hin, das nicht in der Religion selbst liegt, gesetzt. Eine solche Betonung ist charakteristisch v.a. für die monotheistischen Religionen des Judentums, Christentums und des Islams.
Die große Spannung zwischen Beheimatung und Entfremdung, die immer mit einem neuen Aufbruch zur verheißenen Heimat verbunden ist, zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Alte Testament hindurch. In den Schöpfungserzählungen (Gen 1-2,4a und Gen 2,4b-3,24) wird bildlich dargestellt, wie die Sünde des Menschen ihn von der paradiesischen Heimat, die er in der Nähe zu seinem Schöpfer bis dahin hatte, trennt. Weil Gott jedoch den Menschen eine neue Heimat geben will, erwählt er konkrete Personen, damit sie als Vorsteher seines Volkes - gemeinsam mit seinem Volk - „zurück zu ihm“ aufbrechen (vgl. Gen 12,1-3; Ex 3,7-10). Dabei wird sowohl der personenbezogene als auch der gemeinschaftliche Aspekt der Erwählung durch Gott betont. Gott selbst ist unterwegs mit seinem Volk. An bestimmten Orten, die in dem Land liegen, das den Israeliten verheißen ist und in das sie später zurückkehren sollen, zeigt sich Gott den Patriarchen auf besondere Weise. Diese Orte der Theophanie „erlangen eine bleibende kultische Bedeutung als Heiligtum“. Sie sollen auf den Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, hinweisen. Ihre Bedeutung der religiösen Beheimatung greifen alttestamentliche Texte auf, die nach dem Bundesschluss am Sinai zur Errichtung eines transportablen Heiligtums auffordern (vgl. Ex 25,1-27,21). Nach der biblischen Überlieferung wird dieses Heiligtum (Offenbarungszelt), in dem die Bundeslade als Zeichen des Bundes aufbewahrt wird, für die Israeliten zum heiligen Ort der Begegnung mit Gott während ihrer Wüstenwanderung und der Ansiedlungsphase im verheißenen Land, bis zum Bau des Jerusalemer Tempels. Nach einer langen Entstehungsphase des Monotheismus, die mit der Zentralisierung des Kultes in Jerusalem im Zusammenhang steht, wird am Ende des 7. Jahrhunderts v.Chr. unter König Joschija der Jerusalemer Tempel schließlich zum einzigen Kultort des Volkes. „So bündelt sich im Jerusalemer Tempel die Vielzahl an Traditionen und theologischen Wertungen dessen, was für Israel und seinen Gottesglauben Heiligtum bedeutet.“ Es dauert jedoch nur ein paar Jahre, bis der Tempel 586 v.Chr. von den Babyloniern zerstört wird und ein großer Teil der Bevölkerung Judäas ins Exil gehen muss. Die Verbannung aus der Heimat und der Verlust des heiligen Ortes soll den Menschen u.a. auf folgendes aufmerksam machen:
„Gott dingfest machen zu wollen, das ist die große Versuchung für alle religiösen Menschen: Der Glaubende als Bauherr eines Gotteshauses will Gott bei sich behalten, möchte seiner habhaft werden. Die Folge eines solchen Bemühens ist aber nur zu oft, dass dabei die lebendige Wirklichkeit versteinert. […] Ob in der Zerstreuung oder im Exil, in beiden Grenzsituationen bricht die ursprüngliche Glaubenserfahrung wieder auf: Gott geht mit. In der lebendigen Beziehung zu ihm ist die eigentliche Bleibe des Menschen. Wenn vom Tempel nur die Klagemauer übrig bleibt, soll sie daran erinnern: Aus allem, was wir Menschen um unseres Heiles willen in eigener Regie errichten, aus allem, hinter dem wir uns und unseren Glauben verbarrikadieren wollen, treibt uns Gott ins Freie.“
Die Erfahrung des Falls Jerusalems und der Verbannung hat für das Volk Israel noch eine andere Bedeutung. Der Psalm 137 evoziert diese auf eindrückliche Art und Weise. Er möchte die Erinnerung an die verlorene Heimat und die seelische Bindung zu ihr wachhalten:
„An den Strömen von Babel, / da saßen wir und weinten, / wenn wir an Zion dachten. 2 Wir hängten unsere Harfen / an die Weiden in jenem Land. 3 Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, / unsere Peiniger forderten Jubel: / ‚Singt uns Lieder vom Zion!‘ 4 Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, / fern, auf fremder Erde? 5 Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, / dann soll mir die rechte Hand verdorren. 6 Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, / wenn ich an dich nicht mehr denke, / wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe. […].“ (Ps 137,1-6).
Wenn die Israeliten von ihrer Heimat physisch getrennt sind, wird ihnen durch die lebendig gehaltene Erinnerung an sie neu bewusst, was für sie Heimat im eigentlichen Sinne bedeutet. Das hat für sie weitreichende Konsequenzen, die zur Rückbesinnung auf die tragenden Gründe des Lebens, die im Bund mit Gott verankert sind, führen. Sie äußert sich v.a. durch persönliche Umkehr zu Gott, durch neue Identifizierung mit dem eigenen Volk und durch neue Wertschätzung der eigenen religiösen Traditionen. Viele Psalmen greifen diesen Prozess der „geistigen Rückkehr“ auf. Im Buch Esra wird dargestellt, wie dieser Vorgang der Erneuerung des Heimatbewusstseins sich nach der Rückkehr aus dem Exil auf das Leben des Volkes auswirkte.
Durch die Heilsereignisse in Jesus Christus und die Entstehung der Kirche erhält das theologisch-anthropologische Heimatverständnis neue Akzente. Gott selbst wird Mensch, um einen neuen und ewigen Bund mit den Menschen einzugehen. Er will in seinen Heilsplan die freie Mitwirkung des Menschen einbeziehen. Maria stimmt den Plänen Gottes zu. Durch ihr Ja-Wort wird sie selbst zur Heimat für den menschgewordenen Logos – zum Heiligtum Gottes. Die Menschwerdung Gottes hat im Hinblick auf den Bezug des Menschen zur Heimat eine entscheidende Konsequenz:
„Das Geheimnis der Inkarnation besagt nicht nur die Annahme einer individuellen Menschennatur durch den Logos, sondern zugleich auch sein Eingehen in eine ganz konkrete geschichtliche Stunde und ein essentielles Ja zu all den sozialen Bezügen eben dieser individuellen Natur.“
Entsprechend dieser Wirklichkeit sieht Rudolf Lange „das Geheimnis der Inkarnation als seinsanaloges Maßbild der Stellung der Kirche zur Heimat“. Nach Wollbold ist das „Schlüsselwort für eine Heimat aus dem Glauben“ die dritte Seligpreisung, die Jesus in Anlehnung auf Ps 37,11 verkündigt: „Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben.“ (Mt 5,5). Die Aussage Jesu soll nicht ausdrücklich in eschatologischer Perspektive gedeutet werden, sondern die „Hoffnung auf eine Umgestaltung dieser Erde“ wecken. Diese Umgestaltung geschieht, wenn Menschen die Zusage Gottes („sie werden das Land erben“) durch ihr freies Mitwirken an seinem Heilsplan möglich machen („die keine Gewalt anwenden“). Die dritte Seligpreisung lässt sich mit dem Motiv des Zweiten Vatikanischen Konzils, „dem Volk Gottes auf dem Weg zum Reich Gottes“, in Verbindung setzen. „Das Schlüsselwort einer solchen Existenz ist die Communio mit Gott und untereinander […].“ Der Gedanke der Communio betont, dass die letzte Heimat für den erlösten Menschen eine Gabe des Heilshandelns Gottes ist und sich in der Gemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, dem Haupt des mystischen Leibes, und seinen Gliedern verwirklicht (vgl. LG 7; 13). Eine Gabe ist meistens mit einer Aufgabe verbunden. Der Communio-Gedanke betont daher gleichzeitig, dass die Kirche stets im Dienst der Erfüllung der menschlichen Sehnsucht nach Beheimatung steht. In der Gleichgestaltung mit Christus soll sie sich „den Hungernden und Dürstenden, Fremden und Obdachlosen, Nackten, Kranken und Gefangenen“ zuwenden (vgl. Mt 25,31-46; LG 8; GS 1). „An einem anderen Ort ist mit Jesus keine Heimat zu finden.“
Papst Franziskus setzt in seinem Pontifikat den Akzent genau auf diesen wesentlichen Auftrag der Kirche. Die Formen der derzeitigen Heimatlosigkeit des Menschen wie „die Verwirrung hinsichtlich des Lebenssinns, die persönliche Desintegration, der Verlust der Erfahrung, zu irgendeinem ‚Nest‘ zu gehören, das Fehlen eines Bezugspunktes oder tiefer Bindungen“ sieht der Papst als Aufforderung an die gesamte Kirche, sich ihrer wesentlichen Aufgabe neu bewusst zu werden. Mit tiefer Besorgnis bezieht er sich ebenfalls auf die Situation vieler Menschen, die die Kirche verlassen, weil sie von ihr enttäuscht sind:
„Vielleicht ist die Kirche zu schwach erschienen, vielleicht zu fern von ihren Bedürfnissen, vielleicht zu arm, um auf ihre Beunruhigungen zu antworten, vielleicht zu kalt ihnen gegenüber, vielleicht zu selbstbezogen, vielleicht eine Gefangene ihrer eigenen steifen Ausdrucksweisen, vielleicht scheint es, als habe die Welt die Kirche zu einem Überbleibsel aus der Vergangenheit gemacht, unzureichend für die neuen Fragen; vielleicht hatte die Kirche Antworten für die Kindheit des Menschen, nicht aber für sein Erwachsenenalter.“
In diesem Zusammenhang benutzt Franziskus das Bild der Emmaus-Jünger, die aus Jerusalem fortlaufen (vgl. Lk 24,13-35). Er bleibt jedoch nicht bei der Reflexion der heutigen Situation, sondern zeigt einen Weg für die Kirche auf, der zur Erfahrung der seelischen Beheimatung der Menschen wesentlich beitragen kann:
„Es braucht eine Kirche, die keine Angst hat, in die Nacht dieser Menschen hinein zu gehen. Es braucht eine Kirche, die fähig ist, ihnen auf ihren Wegen zu begegnen. Es braucht eine Kirche, die sich in ihr Gespräch einzuschalten vermag. Es braucht eine Kirche, die mit jenen Jüngern zu dialogisieren versteht, die aus Jerusalem fortlaufen und ziellos allein mit ihrer Ernüchterung umherziehen, mit der Enttäuschung über ein Christentum, das mittlerweile als steriler, unfruchtbarer Boden angesehen wird, der unfähig ist, Sinn zu zeugen. […]. Ich möchte, dass wir heute uns alle fragen: Sind wir noch eine Kirche, die imstande ist, die Herzen zu erwärmen? Eine Kirche, die fähig ist, nach Jerusalem zurückzuführen? Wieder nach Hause zu begleiten? In Jerusalem wohnen unsere Quellen: Schrift, Katechese, Sakramente, Gemeinschaft, Freundschaft des Herrn, Maria und die Apostel… Sind wir noch fähig, von diesen Quellen so zu erzählen, dass wir die Begeisterung für ihre Schönheit wiedererwecken?“
Kann die Kirche für die heutigen Menschen eine Wahlheimat sein oder ist (bleibt) sie für sie eher eine fremde Heimat?
2.3 Das theologisch-anthropologische Heimatverständnis Joseph Kentenichs
Joseph Kentenich beschäftigte sich mit der oben genannten Frage v.a. in psychologisch-pädagogischer Hinsicht. Im dritten Kapitel wird ausführlich dargestellt werden, welche Bedeutung die seelische Beheimatung im Verlauf seines Lebens gewann. Sowohl durch seine eigenen Erfahrungen als auch durch die Erfahrungen im Kontakt mit anderen bildete sich bei ihm ein Heimatverständnis heraus, das seine seelsorgerliche und pädagogische Tätigkeit tief prägte. Jedoch behandelte er, meiner Recherche nach, das Phänomen Heimat meistens nur in Verbindung mit anderen Themen. Eine tiefere Analyse des Heimatgedankens führte Kentenich in seinen sechs letzten Vorträgen der Pädagogischen Tagung im Jahr 1951 durch. Bevor im Folgenden die einzelnen Aspekte seines theologisch-anthropologischen Heimatverständnisses näher erläutert werden, ist darauf hinzuweisen, dass er sie in einer bestimmten Zeit (relativ kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, kurz nach der Entstehung der DDR und mehr als zehn Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil) und für einen bestimmten Zuhörerkreis (v.a. für Lehrer und Erzieher) präsentierte. Er geht in seinen Vorträgen auf die Lebens- und Berufsfragen der Teilnehmer ein und spricht konkrete Probleme der damaligen religiösen Erziehung an.
Im Mittelpunkt der Tagung steht die Frage nach der religiösen Sehnsucht des Menschen. Kentenich diagnostiziert zunächst die Zeitsituation hinsichtlich dieser Frage und sucht anschließend nach „psychologischen Grundlagen“ für eine allgemeine Religionspädagogik, die dazu beitragen kann (im Sinne der freien Mitwirkung des Menschen am Willen Gottes), die religiöse Sehnsucht des Menschen zu wecken, zu fördern und ihr „einen Halt zu vermitteln“. Sein Ansatz ist dabei erlebnisorientiert. Am Ende sind es vier grundlegende Aspekte (religiöse Erlebnisfähigkeit; Halt in einer religiösen Gemeinschaft; Halt in einem klaren, zusammenhängenden Wissen; Halt in einem vorgelebten Beispiel) und eine zusammenfassende Erklärung des Begriffs „Heimat“, die Kentenich aus religionspädagogischer Perspektive herausarbeitet.
Wenn Kentenich über die religiöse Sehnsucht des Menschen spricht, benutzt er die folgende Formulierung: „Sehnsucht nach einer übernatürlichen Atmosphäre“. Für ihn bedeutet „die übernatürliche Atmosphäre […] einen Einbruch des Göttlichen in das Irdische und einen Aufbruch des Irdischen in das Göttliche“. Ausgehend von dem gesamten Konzept der Pädagogischen Tagung kann man folgendes annehmen: Wenn Kentenich von der „übernatürlichen Atmosphäre“ spricht, möchte er betonen, dass es ihm nicht primär um die rationale Ebene eines religiösen Vorgangs geht, der sich auf die sog. „Praeambula fidei intelligibilia“ (die „Vor-Erkenntnisse“ des Glaubens) stützt, sondern um die irrationale Ebene eines Glaubensweges, für den die sog. „Praeambula fidei psychologica“ (die „Vor-Erlebnisse“ des Glaubens) als Voraussetzung gelten und ihn begleiten. Schließlich widmet er einen großen Teil der Tagung dem Thema der religiösen Erlebnisfähigkeit des Menschen.
Kentenich nimmt wahr, dass die Sehnsucht nach einer übernatürlichen Atmosphäre, infolge des fortschreitenden Säkularisierungsprozesses in der Welt, bei seinen Zuhörern zum brennenden Thema geworden ist. Er verbindet sie mit der Sehnsucht nach Beheimatung in Gott. Dabei zitiert er den heiligen Augustinus: „Unruhig ist unser Herz, o Gott, bis es ruhet in dir!“ Für Kentenich ist die Sehnsucht nach Gott bei jedem Menschen vorhanden und kann nicht ganz ausgelöscht werden. „Dieses Heimweh, diese Sehnsucht nach Gott, nach dem Jenseits, nach dem Übernatürlichen kann unterdrückt werden, kann auch irregeleitet werden, kann aber auf die Dauer nicht übertönt und unterminiert werden.“ Er weist darauf hin, dass sowohl die irrationale als auch die rationale Wurzel des Glaubens an Gott durch die Zeitsituation stark erkrankt ist. Eine besonders gefährliche Ursache für die Unterdrückung der religiösen Sehnsucht sieht er im kollektivistischen Menschenbild: „Der kollektivistische Mensch ist der radikal von innen heraus jede Gottesverbindung verneinende und zerreißende Massenmensch.“ Kentenich beobachtet, dass frühere soziale Bezugssysteme sich zu seinen Lebzeiten - verstärkt durch die Folgen beider Weltkriege - entweder ganz aufgelöst hatten oder großen Veränderungen ausgesetzt worden waren. Der gesellschaftliche Wandel wirkte sich auf alle Lebensbereiche des Menschen (ganz besonders auch auf das Familienleben) aus. Diese Tatsache führte Kentenich zur folgenden Behauptung: „Das Heimatproblem dürfte in der Weite, wie wir es verstanden wissen wollen und darstellen dürfen, letzten Endes das Kulturproblem der heutigen Zeit sein. Deswegen ist Heimatlosigkeit das Kernstück der heutigen Kulturkrise.“
Das Wort „Heimat“ verbindet Kentenich mit einem Lebensvorgang. Heimat ist für ihn kein statischer Begriff, sondern eine dynamische Größe, die ganz viele Dimensionen aufweist. Die verschiedenen Aspekte schließen personale, ideelle und lokale Bindungen des Menschen und ihre Wechselwirkung ein. Die religiöse Gebundenheit stellt eine Ganzheit dar, die alle Bindungen des Menschen mit einbezieht. Das „Werden“ der Heimat hängt also tief mit der Bindungsfähigkeit des Menschen zusammen.
Kentenich geht dem „Wesen“ und „Werden“ der Heimat nach und stellt in diesem Zusammenhang vier kurze Thesen auf, die er weiter ausführt. Seine Gedanken zu den einzelnen Thesen stehen jedoch inhaltlich in engem Verhältnis zueinander.
1. Die erste These, die aus dem volkstümlichen Sinnbereich stammt, hebt die personale Bindung des Menschen zu einem anderen Menschen hervor: „Wo Liebe, da ist Heimat! Oder: Wo Vater und Mutter und Geschwister, da ist Heimat! Wo wir Geborgenheit finden und geben, da ist Heimat!“ Es ist eine sichere personale Bindung, welche die natürliche Grundlage für die seelische Beheimatung bildet. Kentenich betont dabei besonders den Wert der Familie: „Die Grund- und Urform der Heimat und der Beheimatung sollte normalerweise die Familie, die natürliche Familie sein.“ Für die personalen Bindungen verwendet er den Ausdruck „seelisches Ineinander“. Damit bekräftigt er ihren gegenseitigen Charakter:
„Mit diesem Begriff der seelischen Heimat ist auch gleichzeitig die Wirkung der Heimat hervorgehoben. Sie schenkt Geborgenheit und Sicherheit. Der Mensch, der Heimat als seelisches Ineinander erlangen will, darf aber Geborgenheit und Sicherheit nicht nur empfangen wollen, sondern er muss sie auch andern geben.“
Heimat schließt somit immer eine Gabe und eine Aufgabe ein. Eine positive personale Bindung des Menschen innerhalb der Naturordnung sieht Kentenich in einem engen Zusammenhang mit einer positiven religiösen Bindung.
2. Die zweite These entnimmt Kentenich (mit kleiner Veränderung) einer Definition von Linus Bopp, dessen Buch „In liturgischer Geborgenheit“ ihm als Grundlage für seine Gedanken zum Heimatverständnis dient: „Heimat ist jener Teil unseres physisch-seelisch-geistigen Lebensraumes, in dem wir Geborgenheit empfangen und bieten, der aber auch gleichzeitig uns als Symbol gilt für die Geborgenheit in Gott.“ Das lokale, psychische und metaphysische Element, die das Wesen der Heimat konstituieren, sollen in einem engen Verhältnis zueinander gesehen werden. Kentenich spricht in diesem Sinne vom „Organismus“, in dem „die drei Elemente miteinander“ verbunden werden. Damit setzt er den Akzent auf ein ganzheitliches Verständnis der Heimat.
Für Kentenich sind seelische (Vor-)Erlebnisse des Menschen, also gefühlsmäßige Vorgänge, von großer Bedeutung. Sie gelten als Voraussetzung für die Entstehung der Heimat auch im Sinne einer lokalen Gebundenheit. Diese kann gleichzeitig aufgrund bestimmter Gesetzmäßigkeiten zum Symbol für die himmlische Heimat werden. In diesem Zusammenhang betont Kentenich einerseits die Bedeutung der religiösen Bräuche und Traditionen, welche mit religiösen Erlebnissen verbunden sind, und andererseits die Bedeutung der Gemeinschaft, die religiöse Erlebnisse zu gemeinsamen Erlebnissen werden lässt.
3. In der Formulierung der dritten These, die eher im psychologischen Bereich ihren Platz hat, bezieht sich Kentenich wiederum auf Linus Bopp: „Heimat ist Assoziationszentrum unserer Vorstellungen und Summationszentrum unserer Empfindungen und Gefühle.“ Die ersten Vorstellungen und Eindrücke eines Kindes werden „später durch Abstraktion verstandesmäßig verarbeitet“ und mit „anderen kommenden Vorstellungen und Eindrücke[n] assoziiert […]“. Sie haben deshalb einen sehr großen Einfluss auf das Leben des Menschen. In diesem Zusammenhang betont Kentenich die Bedeutung früherer sicherer Bindungen (gemeint sind nicht nur personale Bindungen) für die individuelle Entwicklung des Menschen:
„Wenn es uns geglückt ist, die uns Anvertrauten in einer reinen, edlen Atmosphäre zu beheimaten, sind sie immun gegen negative Eindrücke. Wer also einen gesunden natürlichen und übernatürlichen Bindungsorganismus in sich erlebt hat, ist früher oder später immunisiert gegen hässliche Eindrücke von draußen.“
Heimat als „Summationszentrum der Empfindungen und Gefühle“ entsteht in der frühen Kindheit durch die gegenseitige Übertragung positiver Gefühle zwischen Kind und seinen Bezugspersonen. „Das Gefühl, das die Mutter [normalerweise als die erste Bezugsperson] im Kinde geweckt hat, wird übertragen auf den Vater. Im späteren Leben überträgt sich dieses Gefühl, das ich dem ersten Menschen gegenüber gehabt habe, dem ich begegnet bin, auf alle, die irgendwie meine Liebe wecken.“ Kentenich geht davon aus, dass im Verlauf des menschlichen Lebens zwar die meisten gefühlsmäßigen Erlebnisse normalerweise mit der Zeit durch andere Erlebnisse „überschlagen“ werden, dass sie aber im Unterbewusstsein hängen bleiben. Die „Gefühlsübertragung“ vollzieht sich, sofern in der Kindheit (oder evtl. auch später) die religiöse Erlebnisfähigkeit geweckt wird, ebenso in der Beziehung zu Gott bzw. zur Gottesmutter. Wenn bei einem Menschen der Vorgang der Übertragung der positiven Gefühle von der natürlichen Ordnung in die übernatürliche Ebene nicht geschieht, weil er als Hindernis auf dem Weg zu Gott angesehen wird, kann der Gottesglaube jenes Menschen zwar durch den Verstand und den Willen getragen sein, aber es fehlt ihm eine gefühlsmäßige Beziehung zu Gott. Dadurch kann es bei diesem Menschen zu einer „Hemmung jedem natürlichen Affekt gegenüber“ kommen, weil er die Tendenz hat, Gefühle allgemein als Schwäche zu betrachten und sie zurückzudrängen. Gleichzeitig betont Kentenich, dass zum Wachstum im geistlichen Leben auch Phasen der Trockenheit im Bereich der Gefühle gehören. In solchen Perioden geht es um den Prozess der Lösung von sich selber, von positiven Gefühlen in der Gottesbeziehung. Dadurch bekommt der Vorgang der religiösen Beheimatung neue Akzente, die das menschliche Vertrauen in Gott stärken sollen. Kentenich vergleicht diesen Prozess mit dem Prozess der Lösung des Kindes vom Mutterschoß bzw. mit der Reifung zum Erwachsensein. Er macht jedoch auf folgendes aufmerksam: „Es ist etwas ganz anderes, im reifen Alter, wenn der liebe Gott uns in die Hand nimmt, auf derartige Gefühle zu verzichten, und etwas anderes, in der normalen Erziehung empfindungslos aufzuwachsen.“
4. In Anlehnung an Johann B. Westermayr formuliert Kentenich seine vierte These: „Heimatliebe ist die Grundform einer gesunden, […], organischen Selbstliebe, die einer Entwicklung fähig und bedürftig ist.“ Mit dem Adjektiv „organisch“ meint er an dieser Stelle, dass die Selbstliebe eine Verbindung zwischen dem „Ich“ und allen seinen Bezugsobjekten einschließt, und dadurch erweitert wird. Damit macht er deutlich, dass in der Heimatliebe die Integration wesentlicher Bindungen des Menschen vollzogen wird. Die Bindungsobjekte werden auf geistige Weise in das Subjekt aufgenommen und erwirken dadurch das Erlebnis der Geborgenheit und Sicherheit. Die „organische“ Selbstliebe sieht Kentenich in enger Verbindung mit der Nächsten- und Gottesliebe (vgl. Mk 22,34-40). Die wichtigste Aufgabe für die Erzieher ist demnach die Erziehung zur Ehrfurcht dem Anderen und der ganzen Schöpfung gegenüber, zur Pflege der Dankbarkeit, zur emotionalen Wärme, zur Gottes- und Nächstenliebe.
Zusammenfassend darf folgendes festgehalten werden: Das theologisch-anthropologische Heimatverständnis Kentenichs ist durch seine Lehre vom „Bindungsorganismus“ geprägt und lässt sich somit in seine sog. „Psychologie des Grundverhältnisses zwischen Erst- und Zweitursache“ einordnen. Seine religionspädagogischen Prinzipien orientieren sich an diesen Gedankenkomplexen. Ihr Akzent liegt in der Entfaltung der natürlichen und religiösen Erlebnisfähigkeit des Menschen:
„Die Heimatlosigkeit des heutigen Menschen liegt im mangelnden Heimaterlebnis. Selbst wenn der moderne Mensch Orte sein eigen nennt, hat er oft keine Heimat. Es fehlen die Heimaterlebnisse. […]. Deshalb ist Beheimatung heute die große Aufgabe, die wir auf der ganzen Linie lösen müssen. Heimat, Beheimatung unmittelbar in Gott allein suchen, löst das Problem nicht. Wir müssen den Menschen im Menschen am irdischen Ort eine Heimat bereiten. Dann wird das übernatürliche Heimaterlebnis gesund; dann greift es ins Gemüt. Was nicht ins Gemüt greift, ist nicht gesichert. Das gibt nicht genügend Geborgenheit und Festigkeit.“
Kentenich spricht dabei aus eigenen Erfahrungen seines Lebens. Er musste in jungen Jahren einen leidvollen Weg gehen. Damit waren viele negative Erfahrungen verbunden, die für ihn zwar große Herausforderungen in seinem persönlichen Wachstum bedeuteten, die ihm aber gleichzeitig den Anstoß gaben, wichtige Akzente seiner Pädagogik und Spiritualität herauszukristallisieren und ins reale Leben umzusetzen. Bevor seine Pädagogik der Bindung in der Perspektive des Themas dieser Arbeit näher erläutert wird, wird im folgenden Kapitel die Bedeutung der seelischen Beheimatung in seiner eigenen Biographie und seinem seelsorglichen Wirken dargestellt, um den Zugang zu seinen wichtigen pädagogischen Anliegen deutlich zu machen.
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