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Haus Moriah Nachrichten 2008-09-22_DBK Herbst Impulsreferat

„Christus ist unter euch,
er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit“ (Kol 1, 27)

Überlegungen zum missionarischen Dialog der Kirche mit unserer Zeit

Impulsreferat von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch
zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung 2008
der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda

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Der heilige Paulus, der uns in diesem Jahr begleitet, ist zweifellos einer der profiliertesten und faszinierendsten Apostel. So sagt denn Papst Benedikt zurecht: „Paulus ist für uns nicht eine Gestalt der Vergangenheit, derer wir achtungsvoll gedenken. Er ist auch unser Lehrer, auch für uns Apostel und Verkünder Jesu Christi. [...] Paulus will mit uns reden – heute.“1 Mit diesen einladenden Worten eröffnete unser Heiliger Vater am Vorabend des Hochfestes Peter und Paul das von ihm ausgerufene Paulusjahr. Diese Einladung wollen wir gerne aufgreifen und uns von Paulus, von seinem Leben und Wirken inspirieren lassen. Die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn vor Damaskus ist es, die sein Leben von Grund auf verändert: Er, der Zeltmacher aus Tarsus, wird vom Verfolger zum Nachfolger; er, der gesetzestreue Pharisäer, wird vom Gegner des Evangeliums zum Apostel Jesu Christi und großen Missionar. Leidenschaftlich und voller Hingabe trägt der Apostel Paulus den Glauben an den auferstandenen Herrn in die Städte des Nahen Ostens, er verkündet ihn in Griechenland und bezeugt ihn in Rom. Alle Menschen sollen erkennen: “Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit. Ihn verkündigen wir“ (Kol 1,27 f). In seiner Predigt zur Eröffnung des Paulusjahres wies Papst Benedikt auf „die innerste Triebkraft“ im Leben des hl. Paulus hin: „Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2, 20)2. Die ungeheure Lebens- und Glaubenskraft des Völkerapostels hat ihre Mitte in der überströmenden und treuen Liebe Gottes. Sie schenkt eine unbezwingbare Freiheit und bringt das Leben des Menschen zur Erfüllung, die Gott selbst ist.
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Bis heute ist es die Bestimmung der Kirche, sich vom Glauben des hl. Paulus ergreifen und erneuern zu lassen und allen Menschen die frohe und freimachende Botschaft zu bringen: „Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit. Ihn verkündigen wir“ (Kol 1,27 f). Das heißt: Es ist die Sendung der Kirche, die Botschaft von der göttlichen Berufung des Menschen in die Welt zu tragen und in Wort und Tat zu bezeugen. Es ist unser Auftrag, den Herrn in der Feier der Sakramente zu vergegenwärtigen und die Liebe Gottes in der Zuwendung zum Nächsten Gestalt werden zu lassen. Während der letzten Jahre hat unsere Bischofskonferenz die Bedeutung dieser Sendung für unseren Dienst in der Gegenwart vielfach durchdacht und diskutiert.3 An diesen Überlegungen und Veröffentlichungen möchte ich anknüpfen auf der Suche nach „Wegen des missionarischen Dialogs mit unserer Zeit“, wie ich meinen Impulsvortrag überschrieben habe. Zweifellos: Für diesen heute so notwendigen missionarischen Dialog braucht es „Mehr als Strukturen“ und strukturelle Vorkehrungen – so notwendig und unentbehrlich diese im einzelnen sind. Von diesem „Mehr“ zeugt das eindrucksvolle Wort des Jesuitenpaters Alfred Delp: „Wenn wir an diesen missionarischen Auftrag des Christentums glauben, dann ist eben nur der wirklicher Christ, der missioniert, das heißt, soviel Wirklichkeit besitzt und so echt ist, dass er ausstrahlt und mitnimmt. Es gibt keine christliche Selbstverschließung im Heiligtum, sondern nur ein Starkwerden zu neuer Strahl- und Formkraft.“4
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Werte Mitbrüder!

Bei dieser „Suche nach dem Mehr“, bei der Frage, wie der christliche Glaube in unserem Land zu „neuer Strahl- und Formkraft“ findet, können wir kaum einen besseren Weggefährten wählen, als den Apostel Paulus. Er will mit uns reden – heute. Darum habe ich mich bei der Vorbereitung auf unsere Konferenz auf ein Gedankenexperiment eingelassen und mir vorgestellt, der Apostel Paulus würde eine weitere Missionsreise unternehmen, die ihn zu uns, in unser Land, in unsere Diözesen und Gemeinden führt. Wem würde Paulus begegnen? Welche Situation und Stimmung findet er vor? Welche Fragen werden wohl an ihn herangetragen? Uns allen ist wohlvertraut, wie sehr der Apostel immer wieder versucht, die Welt, in die er kommt, zu verstehen. Wie sehr er sich bemüht, die jeweilige geistige und kulturelle Prägung zu begreifen – in Korinth, Athen und den anderen Städten, oder eben heute, in München, Berlin, Köln oder hier in Fulda. Und er ist bestrebt, mit vielen Menschen zu sprechen: Mit denen, die die christlichen Gemeinden tragen, und ebenso mit denen, die der Kirche kritisch gegenüber stehen oder gar aus unserer Kirche ausgewandert sind. Sicher wären auch Verantwortungsträger aus unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft seine Gesprächspartner, die ihm vortragen, was sie vom Christentum erwarten und erhoffen. Und schließlich würde Paulus nach Antworten suchen auf das, was er auf- und wahrgenommen hat, Antworten aus der Perspektive des Glaubens. In drei Abschnitten, die jeweils einer einfachen Frage nachgehen, möchte ich Paulus zu uns einladen und ihn mit uns ins Gespräch bringen:
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  • 1. Was würde Paulus vorfinden?
  • 2. Was würde man ihm sagen?
  • 3. Was würde der Apostel antworten?

1. Was würde der Apostel Paulus bei uns vorfinden?

Es ist nicht ohne Weiteres möglich, die Situation in unserem Land mit wenigen Worten umfassend zu beschreiben. Zu unterschiedlich sind die Entwicklungen, zu differenziert zeigt sich unsere Gesellschaft. Zudem liegen eine Vielzahl an Untersuchungen und Studien vor, die sich ausführlich diesem Thema widmen. Darum sei es mir gestattet, dreierlei herauszugreifen und kurz zu skizzieren, das, wie ich meine, zur Signatur unserer Gegenwart in Deutschland gehört. Wissend, dass es immer etwas willkürlich und fragmentarisch bleibt, wenn man das Besondere einer Zeit beschreibt.
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  • Gesellschaft in Eile: Der hl. Paulus käme in eine Gesellschaft, die in mehrfacher Hinsicht „in Eile“ ist: Sowohl ein enormes Tempo als auch eine große Mobilität kennzeichnen das moderne Leben. Zeit ist zur knappen Ressource geworden. Das betrifft den Alltag von Menschen fast aller Altersstufen, vom Tagesplan der Kinder angefangen bis zur Unruhe derer, die im Ruhestand leben. „Der Feierabend hat Feierabend“5, war kürzlich ein Artikel im ZEIT-Magazin überschrieben, der den Einfluss allgegenwärtiger Kommunikation per Handy, Email und Internet auf die Lebensrhythmen der Menschen beschreibt. Er analysiert, wie Ruhe- und Mußezeiten unter dem Anspruch ständiger Erreichbarkeit dahin zu schmelzen drohen. Die rasche Abfolge von Informationen und die knappen Zeiten zur Verarbeitung und Reaktion setzen die Menschen meist schon im privaten Bereich unter einen hohen Druck. Tempo und Zeiteffizienz sind ein Grundgesetz insbesondere des beruflichen Lebens, und zwar keineswegs nur im Bereich der Wirtschaft – nicht zuletzt spüren auch wir selbst es hautnah. Die Menschen stehen zudem unter dem Anspruch hoher Mobilität. Es muss sich bewegen und beeilen, wer mithalten will.
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    Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang die Herausforderung zu bedenken, die in der modernen Gesellschaft dem Alter innewohnt. Oft hat der dem Gesetz der Eile Unterworfene große Angst vor der geminderten Beweglichkeit in den späten Lebensphasen. Es ist die Angst vor der schier endlosen Zeit, die Hochbetagte, Pflegebedürftige und Altersverwirrte haben, die sie aushalten und ausfüllen müssen. Der Gedanke an den Lebensabend und sein Übermaß an Zeit erfüllt viele Menschen mit großer Unruhe.
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    Eine Gesellschaft in Eile und in ständiger Bewegung ist eine Gesellschaft, die denen nur verminderte Teilhabe gewährt, die sich nicht bewegen und beeilen können. Die Langsamen und schwer Beweglichen sind die, die auch politisch höhere Aufmerksamkeit fordern: auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildungspolitik, im Gesundheitswesen. Nur beiläufig erwähne ich dabei die soziale und kulturelle Herausforderung der regionalen und weltweiten Migrationsströme unserer Zeit.
    In einer „beschleunigten Gesellschaft“ befinden sich alle in einem permanenten Stress und sind gerade deshalb auf der Suche nach Entschleunigung. Menschen sehnen sich nach Ruhe, nach Entspannung und nach Möglichkeiten, das zu verarbeiten, was auf sie einstürmt.
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    Der missionsreisende Paulus, so meine ich, würde dieser großen Sehnsucht gewahr werden, die die Menschen beseelt. Menschen suchen Glück und Erfüllung und tun sich doch oft schwer zu sagen, was das ist. Jedenfalls zählen Schutz und Halt durch andere dazu. Tempo und höchste Mobilität sind Erfahrungen der Vergänglichkeit und Endlichkeit der Welt und des Menschen. Was bleibt? Wer bleibt? Was und wer ist mehr als alles Vergängliche und Kontingente? Ist und bleibt Gott? Paulus würde die Grundmelodie der Zeit hören, die ein Lied im Gotteslob mit den Worten beschreibt „Wohin sollen wir gehen, sag uns wohin? So viele Termine, welcher ist wichtig? So viele Parolen, welche ist richtig? So viele Straßen !“ Und er wüsste: „Ein Weg ist wahr“ (vgl. GL 623).
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  • Des weiteren träfe Paulus eine Kirche vor widersprüchlichen Erwartungen an: Zwei Jahrtausende trennen die Gegenwart von den ersten Christengemeinden und ihrem kulturellen und sozialen Umfeld. Der hl. Paulus würde sich zweifellos auf seiner Missionsreise zu uns mit größtem Interesse und ausführlich mit der Realität der Kirche unserer Zeit befassen. Ihm liegt sehr daran, um die jeweilige Situation und um die Fragen der Christen zu wissen. Natürlich hat sich die Sendung der Kirche nicht geändert. Sie ist und bleibt Zeichen und Weg der Liebe Gottes zu den Menschen. Die Gläubigen aber, die ihr durch Taufe und Firmung angehören, sind auf ganz unterschiedliche Weise katholisch. Sehr viele unterhalten keinen lebendigen Kontakt zur Kirche. Sie erwarten und erhoffen sich von ihr eine gewisse Hilfe, besonders an den Wendepunkten ihres Lebens.6 Im Gottesdienst, in den Pfarreien und in den kirchlichen Verbänden sind sie zumeist nicht anzutreffen, viele bleiben aber dennoch ansprechbar, wenn die Kirche etwa an sie die Bitte um ehrenamtliche Mithilfe heranträgt. Im Regelfall sind sie bereit, im persönlichen Umfeld und im öffentlichen Leben eine kirchen- und christentumsfreundliche Haltung zu fördern, die Kirche für eine nützliche und sozialintegrierende Kraft zu halten und ihre Zustimmung auch dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass sie Kirchensteuer bezahlen.
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    Neben ihnen gibt es die Katholiken, die innerlich ergriffen und entbrannt sind, die ausstrahlen und mitnehmen, wie es in der oben zitierten Aussage von Alfred Delp heißt. Sie nehmen aktiv am Leben unserer Gemeinden teil, sind Mitglied in kirchlichen Bewegungen und katholischen Verbänden und engagieren sich vielfältig. Im Gottesdienst und durch den Empfang der Sakramente bezeugen sie ihren Glauben und die persönliche Verbundenheit mit dem Herrn.
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    So gibt es verschiedene Intensitätsgrade der Glaubenspraxis. Hinzu kommen ganz unterschiedliche Mentalitäten des Glaubens, wodurch das kirchliche Leben noch vielgestaltiger wird. Die Kirche in Deutschland hat Teil an der Vielfalt der Lebenslagen und prägenden Einstellungen in unserer Gesellschaft wie auch am Pluralismus der politischen Richtungen. Schließlich: Es gibt viele Katholiken, die sich glücklich fühlen dank ihres Glaubens und ihrer Kirchenzugehörigkeit, und solche, die sich mit dem Glauben und der Gestalt der Kirche schwer tun.
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    Paulus würde diese verschiedenen Stufungen und Formen der Zugehörigkeit zur Kirche vorfinden und mit ihnen auch sehr unterschiedliche Erwartungen von Katholiken an die Kirche und insbesondere an das kirchliche Amt. Hinzu kommt: Eine mangelnde Einheit der Kirche, die ihn schon zu seiner Lebzeit besorgt machte, ist heute Realität. Die Einheit der Kirche ist verloren gegangen und in Deutschland prägt eine sehr differenzierte ökumenische Situation die Präsenz des christlichen Glaubens.
    Diese Beobachtungen ermöglichen dem Besucher Paulus einen großen Realismus. Er kann besser begreifen, dass und wie die Liebe des Guten Hirten die Kirche prägen kann, der dem verirrten Schaf nachgeht und alle in seiner Herde behüten möchte. Dafür bietet die Gegenwart große Chancen. Eine Pastoral des Nachgehens muss auf neue Weise die Seelsorge und das Leben der Kirche prägen.
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  • Paulus würde nicht zuletzt der Individualismus in Gesellschaft und Kirche auffallen: Der ausgeprägte Individualismus steht ohne Zweifel in Verbindung mit dem großen Tempo und der hohen Mobilität des Lebens in Deutschland. Die besondere Stellung des Individuums ist dem Völkerapostel nicht unbekannt. Er selbst hat die Freiheit und Einmaligkeit jedes Menschen in der Begegnung mit dem Herrn erfahren. Sie prägte sein Leben und Denken und gehört mit zu den Grundlagen des gegenwärtigen Individualismus. Bevor man den „Individualismus“ vorschnell als Feind des Christentums brandmarkt, empfiehlt sich eine gründlichere Analyse der geistigen Entwicklung, die die Individualisierung herbeiführte und durchaus auch einen christlichen Hintergrund hat.
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    Es stimmt aber auch, dass der moderne Individualismus im Sinne einer Überbewertung des Individuums die gegenwärtig so genannte „Erfindung des ‚eigenen Gottes‘“7 zur Konsequenz hat. Sie ist eine Art Selbstvergötterung des Individuums, bei welcher der Mensch in gewisser Weise Glaubender und Gott zugleich ist. Die herausragende Stellung des Individuums wird nicht mehr, wie es in der persönlichen Ansprache des Einzelnen durch Gott grundgelegt ist, kultiviert und in den Horizont der größeren Gemeinschaft gestellt, sondern verabsolutiert. Als Folge zeigt sich bei uns unter anderem eine gewollte Herauslösung des Einzelnen aus den ihm vorgegebenen und ihn tragenden Traditionen. Diese Enttraditionalisierung belegen hinsichtlich des Glaubens bzw. der religiösen Überzeugungen zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre, die immer wieder zwei Ergebnisse zeigen: Einerseits haben viele Menschen ein ausgeprägtes Interesse an einem Transzendenzglauben; andererseits geht dies aber oft mit einer sehr willkürlichen Komposition der Glaubensinhalte einher – und dies ganz nach Geschmack des Individuums, das in diesem Sinn selbst Richtmaß des Glaubens wird. Das Resultat ist ein buntes Potpourri an Glaubensauffassungen und religiösen Vorstellungen, auch bei Katholiken.
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2. Was würde man Paulus sagen?

Bei seinen Missionsreisen wandte sich Paulus stets zuerst den Synagogen zu, scheute aber auch die Ansprache der Heiden nicht. Harmlos verliefen seine Kontakte keineswegs. Sie hatten ein gesellschaftliches Störpotential, das groß genug war, um ihm mehrmalige Gefängnisaufenthalte und schließlich das Todesurteil und die Hinrichtung einzutragen.
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Die Apostelgeschichte berichtet aber auch von friedlichem Disput. Die Gespräche auf dem Areopag in Athen zeigen einen Mann, der es verstand, ohne Anbiederung oder falsche Anpassung an die Denkwelten und die Praxis seiner griechischen Zeitgenossen anzuknüpfen (Apg 17,19-34). Zwar war das „Unternehmen Areopag“ nicht von Erfolg gekrönt. Der – durchaus auch kontroverse – Austausch mit den intellektuellen Meinungsträgern der Zeit blieb dennoch auf der Tagesordnung und war Grundlage für die Ausarbeitung einer Theologie auf dem hohem Niveau des zeitgenössischen Geisteslebens.
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Man darf infolgedessen zurecht davon ausgehen, dass Paulus als Besucher bei uns bewusst und gezielt das Gespräch mit den gesellschaftlichen Gruppen suchen würde. Was würden ihm die Vertreter von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sagen und wem würde er begegnen?
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  • Es würden ihm gesellschaftliche Führungskräfte begegnen, die hinsichtlich ihrer Intellektualität und ethischen Sensibilität den Vergleich mit früheren Generationen nicht zu scheuen brauchen. Es lohnt sich, in Anbetracht einer verbreiteten, wohlfeilen Eliten-Schelte dies offen und ehrlich zuzugeben.8 Die Geschichtsbewussten unter den Gesprächspartnern des Paulus erkennen an, dass das Christentum Wesentliches zur Entwicklung einer freiheitlichen Gesellschaft beigetragen hat: Die gleiche Würde aller Menschen; ein individuelles wie gesellschaftliches Ethos, das in dieser Würde ihr Maß findet; die Vorstellung einer Einheit der Menschheitsfamilie - mit Solidaritätspflichten, die über Familie, Nation und auch Religion hinausgehen; eine Entmythologisierung, die die weltliche Wirklichkeit öffnet für den forschenden und gestaltenden Menschen – all dies sind bleibende Voraussetzungen der modernen Welt. Es gibt bei denen, die der hl. Paulus treffen würde, auch durchaus eine Ahnung davon, dass – mit einem Wort von Franz-Xaver Kaufmann – die „Entwicklung der Moderne von Traditionsbeständen – etwa dem bürgerlichen Pflichtethos und christlich legitimierter‚ Gewissenhaftigkeit und Aufrichtigkeit – profitiert hat, die sie in ihrem Fortgang langsam zerstört, ohne doch funktionale Äquivalente an ihre Stelle setzen zu können.“9
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  • Das ist der Grund dafür, warum man an Paulus die Erwartung herantragen würde, der Glaube solle Werte vermitteln für das Zusammenleben der Menschen. Dieser Ruf ertönt vor allem aus Kreisen der Politik und der Wirtschaft immer wieder. „Gerade hier kommt es auf die Kirchen an!“, so würde man dem hl. Paulus versichern. Die eher Konservativen hoffen darauf, dass die Kirchen wie bislang Werte generieren und vermitteln können. Und den Linken und Liberalen gelten sie als relevanter Teil der so genannten Zivilgesellschaft, die einen wertebestimmten gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen soll.
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  • Solche Erwartungen haben durchaus ihre Berechtigung. Das Wirken der Kirche will ja tatsächlich die Menschen zu verantwortungsbewusster Freiheit und solidarischem Miteinander befähigen und bewegen. Insofern ist die Kirche nützlich für die Gesellschaft und will es auch sein. Doch steckt dahinter auch eine eminente Gefahr: Am Ende drohen Selbstsäkularisierung und Selbstaufgabe, wenn die Kirche ihr Selbstverständnis einfach den von außen an sie herangetragenen Funktionszuschreibungen anpassen würde. Ihr geht es auch um Werte. Aber eben nicht nur und nicht zuerst. Ihre Botschaft ist die lebendige Verheißung Gottes an den Menschen, wofür der hl. Paulus ein beredter Zeuge ist. Deshalb und in diesem Zusammenhang spricht die Kirche von der rechten Ordnung der Gesellschaft, von Werten, Tugenden und Normen. Die Kirche ist nicht der Dienstleister der Gesellschaft, sondern macht den Dienst Gottes an den Menschen präsent.
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  • Dennoch müssen wir die Fragen, mit denen Paulus im Gespräch mit den gesellschaftlich Verantwortlichen unserer Zeit konfrontiert würde, ernst nehmen. Den Versuchungen, die für die Kirche damit einhergehen, dass sie als Wertelieferant der Gesellschaft verstanden wird, dass sie auf die Funktion als „Bundesagentur für Werte“ reduziert wird, ist dann beizukommen, wenn sie auch das in die Gesellschaft hineinträgt, was nicht den Erwartungen entspricht und nicht unbedingt den reibungslosen Gang der Dinge befördert. Denjenigen, die den Einsatz der Kirche für Ehe und Familie rühmen, müssen immer wieder auch die Rechte der Migranten auf Zusammenführung ihrer Familien in Erinnerung gerufen werden. Diejenigen, die sich auf den Gerechtigkeitsimpuls der katholischen Soziallehre berufen, müssen auch auf die Rechte der ungeborenen Kinder hingewiesen werden. Wirtschaftsvertretern, die im christlichen Menschenbild des schöpferischen Individuums zu Recht eine Grundlage für eine freiheitliche und marktorientierte Wirtschaft sehen, darf der Einwurf nicht erspart bleiben, dass die Wirtschaft nach kirchlicher Lehre menschenförmig und nicht der Mensch wirtschaftsförmig gemacht werden muss. Auch auf den Areopagen unserer Zeit würde man Paulus wohl öfter sagen: „Darüber wollen wir dich ein andermal hören“ (Apg 17,32).
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  • Schwieriger als das Gespräch mit Politikern und Wirtschaftlern könnte sich die Begegnung des Apostels Paulus mit jenen Naturwissenschaftlern entwickeln, die die Kirche vor allem als retardierende gesellschaftliche Kraft wahrnehmen zu müssen meinen – als Institution, die der Forschung Grenzen setzen wolle und damit z. B. den medizinischen Fortschritt und die Heilung von Menschen behindere. Die Theologie wird von solchen Wissenschaftlern oftmals nicht als satisfaktionsfähiges Gegenüber betrachtet. Im Bereich der Neurowissenschaften gibt es sogar Tendenzen, alle geistige und soziale Aktivität des Menschen naturwissenschaftlich zu interpretieren und damit den Begriff der Freiheit, wie wir ihn kennen, radikal zu überwinden. Würde Paulus in der Auseinandersetzung mit solchem Denken eine Ahnung davon vermitteln können, dass der Mensch zerstört wird, wenn er sich absolut setzt und so zum Werk der eigenen Hände herabsinkt? Wieder würde Paulus auf die grundlegende Aktualität der Lehre von der Rechtfertigung durch Gnade stoßen, die ein Bollwerk ist gegen alle Selbstinterpretationen, die Gott, den ganz Anderen, aus dem Leben der Menschen ausschließen.
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3. Was würde der hl. Paulus zum missionarischen Dialog der Kirche mit der Welt sagen?

Liebe Mitbrüder!

Paulus ist ein Mensch voller Leidenschaft und mit großer Begeisterung – voller Leidenschaft für das Evangelium und mit großer Begeisterung für Jesus Christus. Davon kann ihn nichts und niemand abbringen. In seinem Brief an die Gläubigen in Rom bezeugt er: „Ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,39). Er ist ein neuer Mensch in Christus (vgl. 2 Kor 5,17). Daher leitet ihn das Hoffnungslicht der aufgehenden Sonne und nicht das Abendrot. Die Begegnung mit dem Auferstandenen verleiht Paulus eine neue und grundlegende „Ein-Sicht“. Er sieht von jetzt an die Welt und seine Mitmenschen im neuen Licht des Glaubens und damit gleichsam aus der Sicht Gottes. Und wer die Welt aus der Perspektive Gottes sieht, sieht „mehr als Strukturen“; er sieht tiefer: das, woraus wir wirklich leben. Wer tief in Gott verwurzelt ist, der wird nicht über den Zeitgeist klagen, sondern den Geist der Zeit prägen nach dem Willen und Auftrag Gottes! Hier geht es um den Weg unserer Kirche in die Zukunft.
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  • Paulus lebt im Vertrauen auf Gottes Wirken und Weggeleit. Das macht ihn bei aller stürmischen Dynamik gelassen. So kann er die Thessalonicher und damit auch uns mahnen: „Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen." (2 Thess 2, 2).
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    Gerade in einer Zeit, in der eine hohe Mobilität gefordert und in der technisch vieles möglich ist, in der der wissenschaftliche Fortschritt schnell voranschreitet und täglich vielfältige Anforderungen auf uns einströmen, spüren wir: dass zur Eile immer auch Ruhe und Haltepunkte gehören; dass hohe Mobilität verlässliche Antriebskraft braucht; dass all das von innen her beseelt und erfüllt werden will, womit wir uns äußerlich beschäftigten. Wir tragen die Sehnsucht nach dem „Mehr“ im Herzen, die letztlich in Jesus Christus ihre Erfüllung findet. Antwort auf diese Sehnsucht zu geben, IHN zu verkündigen – das ist zu allen Zeiten unsere Aufgabe. Gottes Geist im Geist der Zeit zu entdecken, dazu sind wir herausgefordert.
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    Es fällt auf: Die Briefe des Völkerapostels beginnen nicht mit Appellen und Mahnungen, sondern mit Dank und Freude; am Beginn stehen nicht Forderungen, die es zu erfüllen gilt, sondern die Hoffnung, die uns geschenkt ist und weitergegeben werden will. Das ist nicht nur der antiken Briefkultur geschuldet; es ist weit mehr: Es ist die herzliche Verbundenheit im Glauben, die frohe Offenheit, mit der Paulus den Menschen begegnet. Wir dürfen uns fragen: Sucht nicht eine Gesellschaft in Eile gerade solche einladenden Glaubensworte und Glaubensorte? Gibt es nicht eine Sehnsucht nach einer offenen Kirche, in der sich die Menschen willkommen und verstanden wissen? Ist nicht die große Anziehungskraft von Pilgerreisen und Wallfahrtsorten ein beredtes Zeugnis dafür? Es wird darauf ankommen, vermehrt solche Biotope des Glaubens zu entdecken und zu fördern, solche Orte auszubauen, an denen die Gegenwart Gottes mitten unter uns spürbar und erlebbar ist, wo die offene wie auch die verdeckte Glaubenssuche von Menschen eine Heimat und Antwort findet.10 Vor allem freue ich mich, wenn ich jungen Menschen begegne, die ihrem Leben Orientierung aus dem Glauben geben möchten. Solche Suche, solche Sehnsucht darf uns bestärken, dabei zu helfen, dass Menschen die Wahrheit ihres Lebens im kirchlichen Glauben finden und so wirklich frei werden. Oder wie es Bischof Joachim Wanke aus Erfurt in seinem diesjährigen Fastenhirtenbrief formulierte: „Wer heutzutage nach Religion sucht, soll sie bei uns finden – in einem Leben, das mit Gott rechnet.“ Ist doch das Evangelium das Manifest der menschenfreundlichen, der weltoffenen und weltweiten Kirche, eben der katholischen Kirche. Paulus hat genau diesen weiten Horizont. Nicht ohne Grund wird er zum Völkerapostel und Heidenmissionar. Er weiß: Wer im Glauben Kraft sucht, braucht nicht Worte der Klage und des Defaitismus, sondern der Ermutigung und gegenseitigen Bekräftigung. Wer nach dem Sinn im Leben sucht, braucht Stätten der Besinnung, Orte, wo Gott die Mitte ist.
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    Unsere Städte, im besonderen die Großstädte, gelten heute nicht gerade als solche Orte, sondern sind eher Stätten, an denen wir die Merkmale des modernen säkularen Lebens in besonderer Dichte und Ausprägung erleben. Hier gelten nicht zuerst die Regeln des Sakralen und Gewachsenen, sondern des Säkularen und des schnellen Wechsels. Fragen des individuellen Lebensstils und der weltanschaulichen Orientierung sind hier eher eine Angelegenheit der privaten Wahl und Entscheidung. Wird es da für uns nicht zu einer besonderen Herausforderung, als Kirche präsent zu sein? Der Apostel Paulus ermutigt uns, uns nicht zu schnell aus der Fassung bringen zu lassen. Er hat leidenschaftlich gewirkt und war doch ein gelassener Mensch. So etwas tut auch uns Heutigen gut. Diese Botschaft gehört dahin, wo das Leben pulsiert. Die Städte waren immer schon Ausgangspunkt und Zentrum der Verkündigung des christlichen Glaubens. Das Urchristentum fand seine spezifische Form in der Stadt. Es hatte keine Berührungsängste. Philippus gehört zu denen, die „durch alle Städte wandern und das Evangelium verkünden“ (Apg 8,40). Der Auftrag, den Paulus bei seiner Bekehrung erhält, kann uns aufhorchen lassen und unseren Blick für die heutige Situation schärfen: „Geh in die Stadt. Dort wirst du erfahren, was du tun sollst“ (Apg 9,6).
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    „In der Stadt erfahren, was zu tun ist?“ – so fragen manche heute eher skeptisch. Doch ein Paulus ging dahin, wo die Menschen waren. Zurecht ergreifen wir heute die Chance der „Citypastoral“. Kirche will mehr und mehr zum Ort werden, der Raum gibt, um zu den eigentlichen Fragen und den Gründen des Lebens vorzudringen, die den Menschen helfen, die Frage nach Gott zuzulassen, nach Gott zu fragen in einem Umfeld, das auf oberflächliche Unterhaltung, Fun, Zerstreuung und Events ausgerichtet ist. Kirche ist zwar nicht für alles, aber für alle da,11 die sich einen Funken Neugier an Gott erhalten haben.
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    Diese Neugier wird zur Chance angesichts des seit einigen Jahren gesteigerten Interesses an qualifizierten Führungen in Kirchen und Klöstern. „Offenbar sind Kirchengebäude in Mode gekommen“,12 so schreibt Albert Gerhards, Professor für Liturgiewissenschaft in Bonn. Und er fährt fort: „zu einem Zeitpunkt, an dem sie verloren zu gehen drohen.“ Ja, es fällt auf: Künstlerisch wertvolle Kirchen wecken das Interesse vieler Menschen, selbst wenn ihnen der Glaube fremd geworden ist, oder sie noch nie ernsthaft mit ihm in Berührung gekommen sind. Manche Kirchen werden zwar mehr von Touristen, denn von Gläubigen besucht. Doch auch darin liegt eine pastorale Chance. Gotteshäuser und Klöster sind und bleiben nicht nur auffällige Schnittstellen zwischen Kirche, Kultur und Öffentlichkeit; sie sind ein unschätzbarer Reichtum, den es zu erschließen und zu entdecken gilt.13 Sie öffnen die Welt zur Transzendenz Gottes hin, sie halten sichtbar und spürbar den Himmel offen, suchen die Sehnsucht nach dem Himmel zu wecken und wach zu halten.
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  • Immer geht es darum, den Menschen das Evangelium zu erschließen. Darum geht Paulus sogar so weit, zu sagen: „Allen bin ich alles geworden“ (vgl. 1 Kor 9,19-23).
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    Der Apostel weiß um die Notwendigkeit, sich um des Evangeliums willen so weit als möglich auf seine Mitmenschen ein zu lassen, wenn er an die Gläubigen in Korinth schreibt: „Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; [...] Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten“ (1 Kor 9,20-22).
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    Neben der Tatsache, dass sich Paulus immer auch für das Einzelschicksal eines Menschen interessiert und einsetzt, beeindruckt die Klarheit, mit der er davon ausgeht, dass Gott im Leben des Einzelnen wirkt.
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    Auch das wäre sicherlich ein zentraler Aspekt, auf den dieser große Apostel heute unser Augenmerk lenken würde. Denn dieser Aspekt unseres christlichen Glaubens ist es, der einem ganz wesentlichen Charakterzug unserer Tage Rechnung trägt. Der Mensch geht im Glauben an Jesus Christus nicht in der großen Masse der Namenlosen unter; er ist persönlich gerufen und wertgeschätzt. Die Zusage Gottes durch den Propheten Jesaja gilt jedem: „Ich habe dich beim Namen gerufen. Du gehörst mir“ (Jes 43,1).
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    Denn die Individualisierung, von der wir gesprochen haben, in der immer mehr Lebensentwürfe nebeneinander stehen und möglich sind, wird damit ernst genommen und in eine größere Tiefe geführt. Sicherlich: wir können und wir wollen die zunehmende Individualisierung nicht einfach schon aufgrund ihrer Existenz gutheißen; wir wissen um ihre Gefahren und haben auf die Ergänzung hinzuweisen, die durch die Erfahrung von Gemeinschaft notwendig ist. Aber: wir dürfen in diesem modernen Lebensgefühl auch den Ansatzpunkt erkennen, der auf die Bedeutung des Einzelnen und seine persönliche Beziehung zu Gott verweist. Jesus sagt uns dies fast überdeutlich: Fürchtet euch nicht! „Bei euch [...] sind sogar die Haare auf dem Kopf gezählt.“ (Lk 12,7) Mit jedem Menschen hat Gott seine ganz eigene persönliche Geschichte, ja mehr noch, ein jeder und eine jede hat von Gott seinen ganz eigenen, persönlichen Anruf erhalten! Es gibt keine feste und für alle vorgefertigte Haltung, der man entsprechen muss; es kommt entscheidend darauf an, voller Ehrfurcht vor Gottes Ruf, den einzelnen auf seinem Glaubensweg zu bestärken. Unser Besucher, der hl. Paulus, weiß darum, dass der Glaube nicht einfach eine äußerliche Gehorsamshaltung darstellt, sondern eine Vertrauensantwort auf Gott ist. Gott will den Gläubigen durch den Verkündiger erreichen. Eben deshalb ist es ja so wichtig, dass der Christ „ausstrahlt und mitnimmt“ (Alfred Delp). Der Herr selbst bedient sich des Menschen und führt durch uns letztlich selbst den missionarischen Dialog mit der Welt. Eine Kirche, die vorrangig an die Gehorsamspflicht des Menschen appellieren würde, hätte in Anbetracht des gegenwärtigen Individualismus wenig Aussicht auf Gehör. Vielmehr braucht es die Ansprache und Bekehrung des Herzens, die Erfahrung, dass der Glaube nicht einengt, sondern ein Geschenk ist, dass frei macht und Halt gibt.
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    Dass wir Berufene und Gesandte sind, ist die entscheidende Wahrheit des Lebens, die in der Tat motivieren und beglücken kann, ganz unabhängig vom Auf und Ab des Alltags. Sie öffnet den Blick auf die Verheißung, der wir entgegen gehen. So kann denn Paulus schreiben:
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  • „Ich strecke mich nach dem aus, was vor mir ist.“ (Phil 3,13) Diese Grundhaltung ist es, die den hl. Paulus in seinem Wirken kennzeichnet. Er schaut nicht verklärend nach dem, woher er kommt, sondern richtet den Blick nach vorne. Der Blick zurück dient der Vergewisserung und dem Dank. Er ist gut und notwendig. Entscheidender ist es jedoch, wagemutig und mit Gottvertrauen in die Zukunft zu gehen. Gerade im Hinblick auf die Kirche und ihre missionarische Ausrichtung ist dies für Paulus Prämisse all seines Handelns.
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    Im diesem Sinne braucht es ein Kirche, die aufbricht, die sich hier und heute auf den Weg macht zu den Menschen. Eine Kirche, die nicht wartet, bis bzw. dass die Menschen zu ihr kommen. Die Texte und Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils lenken den Blick auf die Kirche, die in der Welt wandernd unterwegs ist. Die dogmatische Konstitution über die Kirche, Lumen Gentium, also der zentrale Text zum Wesen der Kirche, entfaltet die Kirche als das „pilgernde Volk Gottes“14. Zum einen bedeutet eine Kirche in Bewegung eine Kirche, die nach vorne schaut; eine erneuerte Kirche, eine Kirche, die nicht schon fertig und vollendet ist. Sie ist nicht einfach das Reich Gottes in dieser Welt. Sie ist dahin auf dem Weg. Darum bedarf sie immer wieder neu des Aufbruchs, der steten Erneuerung: Jene Vision, jene Verheißung vom Reich Gottes, ist noch nicht Wirklichkeit, sondern Geschenk und Aufgabe. Zum anderen stellt sich eine Kirche in Bewegung ganz explizit in die Nachfolge Christi. So wie Christus selbst nicht abgewartet hat, bis die Menschen zu ihm kommen, sondern auf sie zugegangen ist, sie angesprochen hat und gefragt: „Was willst du, dass ich dir tue?“ (vgl. Mk 10,51), so müssen wir als Kirche die Menschen an ihren Lebensorten, in den unterschiedlichen Situationen aufsuchen und die Botschaft vom Ostersieg Christi zu ihnen bringen. Das ist katholische Kirche: Eine lebendige Gemeinschaft voller Dynamik, ergriffen von Gott, sensibel für das Fragen und Suchen der Menschen.
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    Nur wenn wir den Mut haben, diesen Pilgerweg zu gehen, werden wir dem Auftrag Gottes ent-sprechen; und nur so werden wir in unserer Zeit Menschen für das Evangelium an-sprechen können. Es wird zudem klar: Um Energie und Ressourcen für das Neue zu haben, können wir nicht das Bestehende immer weiter anhäufen und unsere Aufgaben einfach vermehren und erweitern.
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    Um neue Wege gehen zu können, müssen wir manches Vertraute hinter uns lassen, das vielleicht nur noch mit größter Anstrengung und Kraft aufrecht erhalten wird. Schlagwortartig zusammengefasst können wir sagen: „Was nicht weiterführt, führen wir nicht weiter.“ Doch, so müssen wir fragen: Was ist das, das uns auf diesem Weg weiterführt? Wie können wir sichern, dass das, was neu kommt, tatsächlich weiter- und nicht wegführt von dem, was unser Auftrag von Jesus Christus her ist? Dass das Neue an der Hl. Schrift und der Tradition der Kirche Maß nimmt und sich nicht nur an der Nachfrage orientiert? Entscheidend wird dabei das Kriterium sein, wo das Weiterführende im Sinne des Apostels Paulus tatsächlich zu einer Vertiefung des Glaubens führt, was von dem Neuen der Liebe dient, wo in all dem Entstehenden die Hoffnung gestärkt wird. Dieses Kriterium wird leitend sein, um zu beachten, was uns als Kirche in der Tat nach vorne bringt und auf die Zukunft ausrichtet.
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    Da wird es in unseren größer werdenden Seelsorgeeinheiten oder den neuen großen Pfarreien darauf ankommen, dass Gläubige sich auch in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften zusammentun, um sich über ihren Glauben und über ihr Leben auszutauschen! War früher der Glaube in gewisser Weise für viele gesellschaftlich getragen und daher nahezu selbstverständlich, so ist es heute in der Tat notwendig, zu lernen, über den eigenen Glauben und Fragen des Glaubens miteinander ins Gespräch zu kommen, miteinander zu glauben, den Glauben zu teilen, den Glauben des anderen mitzutragen. Bei Besuchen in anderen Ländern und Kontinenten – etwa in Südamerika, in den USA oder Südkorea – konnte ich die Erfahrung machen, wie selbstverständlich es dort für die Katholiken ist, über ihren Glauben zu sprechen. Wie schwer fällt es uns Deutschen dagegen, die offene Flanke zu zeigen und uns als Glaubende zu outen! Wie viel haben wir gerade in diesem Bereich noch zu lernen! Die Fähigkeit, über den Glauben sprechen zu können, will eingelernt, ja fast geübt werden. „Deswegen muss die Sorge der Kirche sein, Weggemeinschaften zu schaffen. Sie wird neue Weisen der Weggemeinschaft bilden müssen, die Gemeinden werden sich stärker gegenseitig, miteinander tragend und im Glauben lebend gestalten müssen. So müssen sich Christen wirklich untereinander stützen“15, so Papst Benedikt in seinem Buch „Salz der Erde“. Dies ist eine Herausforderung, der sich auch die erwachsene Generation zu stellen hat. Deshalb wird es für unsere Gemeinden notwendig, ja überlebens-notwendig, sein, sich hierfür Räume zu schaffen. Nicht wenige suchen in Glaubenkursen und Gruppen, in denen sie sich gemeinsam auf ihren Glauben besinnen und über ihn sprechen, Vertiefung für ihren Glauben. Für diese Menschen da sein zu können, ist entscheidend. Glaubenskurse und Gebetsgruppen sind kein Nischenprogramm. Je mehr Menschen persönlich in Berührung kommen mit dem Gott ihrer eigenen Glaubens- und Lebensgeschichte, desto lebendiger und ausstrahlender werden unsere Gemeinden sein!
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    Bei meinem Besuch in Rom im März dieses Jahres sprach mich der Heilige Vater ausdrücklich auf die Verkündigung des Evangeliums an die Jugend an. Wir dürfen mit Freude wahrnehmen, dass Jugendliche heute wieder offener sind für religiöse Fragen und ansprechbarer für die Kirche. Nicht erst die Bertelsmann-Studie „Religions-Monitor 2008“ hat uns dies gezeigt. Wir dürfen das unmittelbar erleben, etwa an den Weltjugendtagen, wie 2005 in Köln und jetzt in Sydney oder auch auf dem jungen und dynamischen Katholikentag in Osnabrück. Wir sind dankbar, dass sich so viele Jugendliche als Ministrantinnen und Ministranten und in zahlreichen katholischen Jugendverbänden und -gruppen engagieren. Dabei geht es zentral darum, dass Glaube gemeinsam gelebt und zur Erfahrung wird.
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    Gerade an diesen Erfahrungen gilt es, vermehrt anzusetzen. Zunehmend wichtig wird etwa auch die Schulpastoral. Der Religionsunterricht als klassischer Ort der Wissensvermittlung braucht eine Ergänzung im Blick auf die Hinführung zum gelebten Glauben. Die Schule wird mehr und mehr vom Lern- zum Lebensraum; wird sie auch zum Glaubensraum? Vielen Schülerinnen und Schülern fehlt das christliche Fundament, das Einmaleins des Glaubens. Im Sinne einer eigens darauf angelegten Pastoral wird es darauf ankommen, mit jungen Menschen Wege zu gehen, auf denen ihnen der Glauben nicht nur als Lernstoff des Wissens nahe gebracht wird, sondern durch die sie selbst die Lebendigkeit und Schönheit des Glaubens erfahren können. Je mehr wir lernen, „wie Jugendliche ticken“16, je mehr wir an deren Lebenswelt anknüpfen, desto mehr werden Jugendliche erkennen, wie sehr es bereichert, dem Gott des Lebens zu begegnen: im Gebet, in gemeinsamen Unternehmungen und auch in der Feier von Gottesdiensten. Wenn der Wissensstoff des Religionsunterrichts nicht nach der Schulzeit verkümmern soll, ist es unerlässlich, dass Glaube zusammen mit der notwendigen Wissensvermittlung zur gelebten Praxis führt und damit zur Erfahrung wird, die das Leben auch in Zukunft prägt.
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    Die Theologie des hl. Paulus erwächst aus seiner Glaubenserfahrung. Sie ist Antwort auf die Fragen, die sich aus den Gemeinden stellen und Reflexion im Anschluss daran. Darum ist es eine Theologie nahe am Leben. Die Briefe des Apostels bezeugen eine Vielfalt von Diensten, Gaben und Charismen in den frühen christlichen Gemeinden. Dem Apostel geht es darum, dafür zu sorgen, dass sie zusammenklingen und zusammenarbeiten zum Aufbau der Gemeinde (vgl. Röm 14,19; 1 Kor 14,4; Eph 4,7). Er geht noch weiter und sorgt für die Verbindung unter den Gemeinden. Er besucht sie und schreibt Briefe. Seine Mitstreiter reisen in seinem Auftrag (vgl. 1 Kor 16,10) und halten Kontakt. Paulus vernetzt seine Gemeinden, bittet sie, seine Briefe untereinander auszutauschen (vgl. Kol 4,16), motiviert sie zur Liebesgabe für die Christen in Jerusalem (vgl. 1 Kor 16,1 f). Unsere Seelsorgeeinheiten und größer werdenden pastoralen Räume verlangen verstärkte Zusammenarbeit und bieten auch die Chance dazu. Es braucht nicht mehr jeder alles zu tun; es braucht nicht mehr jede Gemeinde für alle pastoralen Aktivitäten zu sorgen. Der Ruf der Stunde heißt: zusammenarbeiten, einander ergänzen, voneinander profitieren, den anderen mittragen. Die vielen hauptberuflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in unserer Kirche heute engagieren, sind ein großes Geschenk des Herrn an uns. Dafür dürfen wir dankbar sein. Sie sind eine wertvolle Vorgabe für uns, um aktiv nach vorne zu schauen und offensiv den Glauben weiterzugeben, denn: denn: „Deutschland ist Missionsland.“ Mit dieser Aussage sorgte Pater Ivo Zeiger 1948 auf dem Katholikentag in Mainz für großen Aufruhr. „Wir sind keine Heiden wie in Afrika,“ musste er sich entgegnen lassen. Doch hinter seiner Aussage steckt mehr. Wir dürfen mit Paulus davon ausgehen, dass Gott, der uns sendet, auch den Weg mit uns geht, unter uns und durch uns wirkt, ja uns auch neue Wege zeigt und führt. Der Apostel lässt sich von Gott führen und schaut danach aus, wo Gott ihm eine Tür öffnet (vgl. 1 Kor 16,9; 2 Kor 2,12; Kol 4,3; Apg 14,27). Schauen wir nicht allzu oft voller Trauer auf Türen, die sich vor unseren Augen verschlossen haben? Und sehen wir darum zu wenig, wo Gott uns neue Wege öffnet? Je mehr wir gläubig Ausschau halten nach offenen Türen – auch wenn sie zunächst nur einen Spalt weit geöffnet sind – desto mehr werden wir des Wirkens Gottes mitten unter uns gewahr werden und die Hoffnungszeichen, die Gott setzt, als Orientierung und Wegmarken erkennen.
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    Das Geschenk, dass Gott mit uns geht, gibt Hoffnung, macht unser Herz weit und dankbar. So lautet denn auch die zentrale Aufforderung des hl. Paulus: „Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen Jesu Christi, unseres Herrn“ (Eph 5,20). Als Christen ist uns aufgetragen, in der Welt aktiv zu werden und sie schöpferisch zu gestalten. All unser Handeln als Geschöpfe lebt jedoch und ist getragen vom vorausgehenden Tun eines Anderen, dem Tun Gottes, dessen Liebe und Zuwendung uns dazu einlädt und ermächtigt. Joachim Kardinal Meissner hat dies mit den Worten hervorgehoben: „Die extensive Präsenz der Kirche in der Welt ist nur fruchtbar, wenn sie durch ihre intensive Existenz in Christus abgedeckt ist.“ Unser Dank an Christus ereignet sich in vielfältiger Weise. Besonders geschieht er in der betenden Hinwendung zu Gott und in der Liturgie der Kirche. Nicht zufällig steht die Feier der Danksagung, die Eucharistie, im Zentrum des christlichen Lebens: „Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles“ (Eph 5,20)! Dank und danksagen öffnen unser Herz für unsere Mitmenschen und lassen uns nach unseren Aufgaben fragen.

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Liebe Mitbrüder!

In einer Gesellschaft in Eile und rastloser Mobilität, mit widersprüchlichen Erwartungen und individuellen Lebensentwürfen Zeiten der Besinnung und dankbarerer Anerkennung dessen einzufügen, was ungeschuldet und unverdient möglich gemacht wurde, kennzeichnet eine Lebensführung aus dem Glauben. Wo wir uns dessen bewusst sind, was wir Gott und unseren Mitmenschen verdanken, wo sich Verweilen, Bleiben und Erinnern entfalten können, schaffen wir schöpferische Ruhepunkte und Orte der Heilung gegen Zeitnot und Hetze. Darum ist es wichtig, dass wir uns in unserer Gesellschaft weiterhin und gegebenenfalls verstärkt zu Wort melden: mit klaren Aussagen zu den Werten, aus denen wir leben und die uns tragen; mit prophetischer Kritik, wo Gottes Weisungen und Vorgaben ignoriert werden; mit herausfordernden Perspektiven, wo manche nicht über den Tag hinaus denken. Wir haben unserer Welt und unserer Gesellschaft Entscheidendes zu sagen. Tun wir es offensiv und mit Mut!
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Dabei werden wir umso mehr wahrgenommen werden, je mehr es uns gelingt, die Fragen und Anliegen in ökumenischer Gemeinsamkeit mit den anderen christlichen Kirchen und – bei uns in Deutschland – insbesondere mit unseren evangelischen Glaubensschwestern und -brüdern aufzugreifen. Die Bitte unseres Herrn in seinem Abschiedsgebet, dass die, die an ihn glauben, eins seien (Joh 17), ist verpflichtender Auftrag für uns und herausfordernde Vorgabe für unser Handeln. An der Ökumene führt kein Weg vorbei. Darum gilt es, den Weg besseren gegenseitigen Verstehens und aktiver Zusammenarbeit weiter zu gehen und ihn, wo wir in Gefahr sind, müde zu werden, neu und vertieft einzuschlagen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, beim Ökumenischen Kirchentag in München gemeinsam ein Zeichen zu setzen und uns – etwa in der Gottesfrage und im Blick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen – einvernehmlich zu Wort zu melden.
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Wir alle wissen, dass das Ausschauen nach dem Wirken des Geistes Gottes und nach der Tür, die er öffnet, Geduld und Ausdauer verlangt. Ausschauen und warten ist eine adventliche, eine marianische Haltung. Maria war so geöffnet für Gott und das Wirken des Heiligen Geistes, dass sie in seiner Kraft Gottes Sohn empfangen und seine Mutter werden konnte. Mit ihrem Ja, so schreibt Papst Benedikt in seiner Enzyklika über die christliche Hoffnung, „Spe salvi“, hat sie Gott selbst die Tür in unsere Welt geöffnet.17 Sie ist es auch, die uns Türen öffnet und uns auf unserem Weg in die Zukunft begleitet.
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Ich wünsche uns, dass wir unsere Zeit in der Haltung Mariens mit geistlicher Wachheit begegnen und so erkennen, wo Gottes Geist wirkt und dass wir offensiv, ohne Angst, aber mit Freude und Gottvertrauen unseren Dienst tun – im Wissen, dass Christus auf vielfache Weise unter uns ist. Er selbst ist unsere Hoffnung. Und die Hoffnung überragt alles; sie gibt Zuversicht und Mut.

Erzbischof Dr. Robert Zollitsch
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

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1 Predigt von Papst Benedikt XVI. bei der Feier der Ersten Vesper am Vorabend des Hochfestes Peter und Paul, 28. Juni 2008, S. 1.

2 Ebd.

3 Vgl. zuletzt z.B. „Mehr als Strukturen …“ = Arbeitshilfen 213 und 216, hgg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2007.

4 Alfred Delp, Christ und Gegenwart (1939), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Roman Bleistein, Frankfurt am Main 1983, 183-204, 202.

5 Heft 36/2008 vom 28.08.08, SS. 12-17.

6 Vgl. z. B. Zulehner, Paul Michael: Übergänge. Pastoral zu den Lebenswenden, Düsseldorf 1989.

7 Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt 2008.

8 Vgl. Pinnow, Daniel F., Elite ohne Ethik. Die Macht von Werten und Selbstrespekt, Frankfurt, 2007, S. 83-131.

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9 Franz-Xaver Kaufmann, Johann Baptist Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg 1987, S. 75f. Vgl. auch: Habermas, Jürgen: Friedenspreisrede, Frankfurt 2001.

10 vgl. die Befunde z.B. der Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2008.

11 Vgl. „Zeit zur Aussaat“. Missionarisch Kirche sein, S. 40.

12 Gerhards, Albert: Sinn und Sinnlichkeit sakraler Räume, in Herder Korrespondenz 3/2006, S. 150.

13 Vgl. Karl Kardinal Lehmann: „Die Gegenwart besitzt ungeachtet der Reizüberflutung eine hohe Sensibilität für ästhetische Fragen. Hier haben wir die Menschen abzuholen“, in: Kirche und Kultur. Dokumentation des Studientags der Herbst-Vollversammlung 2006 der Deutschen Bischofskonferenz (AH 212), S. 67.

14 LG 14, 48, 50.

15 Joseph Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, Stuttgart 1996, S. 281-282.

16 Vgl. Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27, hg. von BDKJ & MISEREOR.

17 Spe salvi, Nr. 49.

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