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Überlegungen zum Priesterbild Pater Kentenichs

von Pater Dr. Herbert King

 

1 Rahmen, in dem das Priesterbild Pater Kentenichs zu sehen ist
2 Prophetischer Deutedienst
3 Mit Menschen unterwegs sein
4 Umgehen mit Freiheit und Selbstständigkeit
5 Mensch sein und immer mehr werden
6 Der Priester und die Frau
7 "Eine Kraft strömte von ihm aus" (Mk 5,30)
8 Sich als Projektionsfläche zur Verfügung stellen
9 Der "sakramental" geweihte Mann Gottes
Literatur 

1 Rahmen, in dem das Priesterbild Pater Kentenichs zu sehen ist

Heute über das Priesterbild zu reden ist gar nicht leicht. Wie andere Bilder (Bild der Frau, Bild des Mannes, Bild Gottes...) ist auch das Priesterbild in einer großen Verunsicherung und Umstrukturierung. Dies manifestiert sich in verschiedenen krisenhaften Vorgängen. Entsprechend groß ist die Literatur zu diesem Thema. Umso mehr lässt hoffen, dass ein Charismatiker und Priesterseelsorger wie Joseph Kentenich da etwas Wegweisendes sagen kann.

1. Das Priesterbild Pater Kentenichs ist selbstverständlich das Priesterbild der Kirche und inspiriert sich vor allem und in erster Linie am Priester schlechthin: Jesus Christus. Es hat aber auch eigene, "neuere" Komponenten. Natürlich. Es ist so nicht das universelle Priesterbild schlechthin. Es wurde in sehr bestimmten Zusammenhängen ausgeprägt und verwirklicht. Auch in einer bestimmten Zeit. Überzeitlich Gültiges, das es beherzt und in neuer Entschiedenheit zu leben gilt, mischt sich mit Zeitbedingt-Heutigem. Ja, es verspricht, gerade für die heutige Zeit einen Beitrag zu leisten. Es enthält also Aspekte, die "typisch", stilbildend, sein können gerade für heutige Priester.

2. Doch dies liegt nicht so einfach auf der Hand. Allzu schnell kann man sein Priesterbild, das gelebte wie das gelehrte, mit dem Schlüssel früherer Priesterauffassungen klerikalistisch oder paternalistisch verstehen. Auch kann hinderlich im Weg stehen, dass vor allem der sehr alte, und sehr "väterliche" Pater Kentenich in den Bildern und der Erinnerung seiner Bewegung weiterlebt. So kann auch deswegen das eigentlich Neue in seinem Priesterbild eventuell gerade nicht in den Blick kommen. Im Weg steht manchmal auch, dass Kentenich eine Jahrhundertgestalt ist, die nicht einfach nachgeahmt werden kann. Und doch zeigt sich in seinem Verhalten, für mich eigentlich sehr deutlich, ein Priesterbild, das für heute einen wichtigen Beitrag leisten kann. Dies hat er vor allem in den letzten Jahren - gerade im hohen Alter - in Milwaukee und wieder in anderer Weise in Schönstatt nach seiner Rückkehr aus dem Exil gezeigt. Mehr und mehr ist er gereift. Ein Priesterbild, das selbstverständlich in den verschiedenen priesterlichen Aufgaben entsprechend angepasst und angewendet sein will. Und doch enthält es Grund-Aspekte, die für alle wichtig sind.

So muss das Priesterbild Kentenichs, wie so vieles andere bei ihm, noch mehr erarbeitet und "gehoben" und die vielen Aussagen miteinander verbunden werden. Das zeigt sich auch daran, dass bis heute niemand außer dem engen Kreis seiner Schüler und Schülerinnen dieses "sein" Priesterbild übernommen hat oder sich darauf bezieht. Auch keiner der charismatischen Aufbrüche in der Kirche, denen man ja nicht von vorneherein vorwerfen kann, dass sie eben zu sehr dem Zeitgeist Tribut zollen. Im Folgenden will ich versuchen, das Priesterbild Pater Kentenichs aus dem Ganzen seiner Praxis und Lehre etwas zu "heben".

3. Vielfach fasst Pater Kentenich sein Priesterbild und -ideal in dem Wort "Vater" oder "guter Hirte". Damit will er nicht einem Klerikalismus oder Paternalismus das Wort reden. In diesem Sinn ist das Priesterbild Pater Kentenichs vielfach zunächst einmal stärker klerikal-paternalistisch aufgefasst worden im Unterschied zu vielen der neueren geistlichen Bewegungen. Vielmehr soll ein Priester gezeichnet sein, der den "Beamten" (so sein häufiges Wort), den Verwalter und den unkommunikativen, ungebundenen, isolierten, seelisch-individualistischen Priester hinter sich lässt. Und sein Amt möglichst wenig als bürgerlichen Beruf mit Universitätsausbildung und gesichertem Einkommen auffasst. Auch soll sein Priesterbild als Alternative verstanden sein gegenüber einem primär an Form, Gesetz und Regeln gebundenen Priester (und Christen allgemein). Entsprechend seinem zentralen Ideal der "Beseeltheit" sieht es Pater Kentenich als eine seiner Hauptaufgaben an, eine oft allzu ritualisierte und formalistische "Übungsfrömmigkeit", wie er es nennt, zu überwinden, wie es auch in dem Begriff "die Sakramente verwalten" zum Ausdruck kommt. Das zeitbedingt Neue ist das Fehlen und der bewusste Verzicht auf allzu starken äußeren Schutz, Sicherheit und feste Tradition. Dies ist über das Priesterbild hinaus der Ansatz Kentenichs auch für die von ihm gegründeten Säkularinstitute (unter ihnen ein eheliches Säkularinstitut, und eben auch zwei priesterliche). Und ist überhaupt eine wichtige Dimension seines Kirchenbildes1 Der zu überwindende Priestertyp setzt zu einseitig den lebendigen Glauben der Menschen voraus, begleitet diesen kritisch als Theologe, Schriftausleger und Hüter von Moral und Brauchtum.

Das von Kentenich vertretene und gelebte Priesterbild hat mit seinem Kirchenbild zu tun. Er sieht die Kirche in erster Linie nicht als Institution oder Organisation, sondern als Familie, als Netzwerk würde er heute sagen, und vor allem als Bewegung mit der Möglichkeit, bewegungsmäßig das Ganze der Gesellschaft in verschiedenen Aspekten zu beeinflussen, aber auch mit der Möglichkeit vielfältigster Ganz- und Teilidentifikationen.2

Wie soll sich ein Priester in einer solchen Sicht der Dinge auffassen? Welche Kleidung ist da adäquater Ausdruck? Der Habit wie bei den Brüdern von Taizé, die Krawatte, wie vor allem bei deutschen Priestern? Der untadelige Anzug, das feierliche Schwarz? Wie schmuddelig darf/soll er sich präsentieren? Sicher ist, dass Pater Kentenich einen Priester und Ordenschristen wollte, der nicht auf Äußeres angewiesen ist, wie es in unserer turbulenten Zeit immer wieder angemahnt wird. Wie ist seine Anrede? Padre, Father, Herr Pfarrer, Herr Vikar, Herr Pater, Herr Bischof? Oder redet man ihn einfach (familienhaft) mit dem Vornamen an? Und lässt sich auch von ihm mit Vornamen anreden. Oder zivil mit Herr und Nachnamen? Mit Du oder Sie?

4. Kentenich bezeichnet das eben Gesagte auch mit dem Wort "prophetisch". "Prophetisch" bezieht sich auf eine Sicht der Dinge, wonach der Priester nicht so sehr Altem und Verlorenem nachtrauert und sich, bewusst oder unbewusst, an "früheren" Auffassungen des Christ- und Kircheseins zu sehr orientiert. Sondern seinen Blick auf das entstehende Neue richtet. Und den Sinn des Zerfalls von so Vielem entdeckt. Und mutig, und vor allem klar und eindeutig, dieses als Ausdruck eines epochalen Gestaltwandels (ein besonders häufiges Kentenich-Wort) sieht. Unter anderem gerade auch den Priestermangel als Chance begreift, eine laikalere Kirche zu konzipieren und zu schaffen. Und "prophetisch" darin Gott am Werk sieht. Da kann man bei Pater Kentenich eine Menge lernen.

5. Eine weitere Vorbemerkung bezieht sich auf das Wort "priesterlich" bei Kentenich. Dass die Christen insgesamt ein priesterliches Volk darstellen, ist für Pater Kentenich schon früh eine wichtige Einsicht. Alle Christen zusammen stellen eine "heilige Priesterschaft" dar (1 Petr 2, 5). So klingt Laie nicht nach "nur laienhaft", sondern entsprechend dem griechischen neutestamentlichen Wort "laós" nach "heiligem Volk". Folgender Satz kann geradezu leitmotivisch über meiner Darlegungen zum kentenichschen Priesterbild stehen.

"Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat" (1 Petr 2, 9).

Bei aller klaren Unterscheidung eines besonderen und allgemeinen Priestertums benützt Pater Kentenich den Ausdruck "priesterlich" sehr ungeniert auch im weiteren Sinn. In einer Tagung für Lehrerinnen sagt er:

"Jegliches Führertum im Lichte des Glaubens ist letztlich eine Teilnahme am Führertum Christi. (...) Wir alle also, die wir ein unauslöschliches Merkmal eingeprägt bekommen haben durch die Taufe und die Firmung, wir alle nehmen dadurch teil am Führertum des ewigen Hohenpriestertums des Gottmenschen.(...) Was im Lichte des Glaubens vom Priester gilt, das gilt im wesentlichen auch von mir als Führer und Führerin. Was im Lichte des Glaubens die Grundhaltung des Priesters sein muss, das muss im Wesentlichen auch meine Grundhaltung als Laienpriester, als Laienpriester kat' echochen, sein, weil ich ja nicht nur seinsgemäß Christus eingegliedert worden bin, sondern kraft dieser Eingliederung auch die Aufgabe bekommen habe, mich als Erzieherin, als Lehrerin zu betätigen in ausgezeichneter Mütterlichkeit und Mutterschaft."3

Noch bevor Pater Kentenich ausführlich den Priester im engeren Sinn in seiner priesterlichen Vaterschaft beschreibt, spricht er über das Priesterliche im Mann und noch häufiger in der Frau. Seine Ausdrücke: priesterliche Väterlichkeit und priesterliche Mütterlichkeit.

Das konnte Kentenich damals noch unbedachter so sagen, weil es eine Diskussion über das Priestertum der Frau im engeren Sinn noch nicht gab. Und für Pater Kentenich lag dies auch völlig fern. Es gibt keine Aussagen bei ihm, dass er das besondere Priestertum auch für die Frau wollte. Und wenn heute vielfach mit großem Engagement über das besondere Priestertum der Frau diskutiert wird, so muss immer zuerst gesagt werden, dass es sich bei der kirchenamtlichen Zurückweisung desselben um das sakramentale Weihepriestertum handelt, nicht um ein mögliches Leitungs- oder Lehramt. Wie diese dann vor allem auf der Ebene des Bischofsamtes zusammenhängen, muss natürlich in manchem noch weiter geklärt werden. Unter den charismatischen Aufbrüchen unserer Zeit sei hier auf den Weg der Foccolare verwiesen. Die vielfach gegliederten Bewegung der Foccolare, muss satzungsgemäß immer eine Frau an der Spitze haben.

6. Nicht automatisch ist bei Kentenich das Priesteramt auch gleichzeitig Leitungsamt. Dies zeigt sich sehr deutlich in manchen seiner von ihm geschaffenen Institutionen. So ist die Leitung des von ihm gegründeten Säkularinstituts(!) von Eheleuten in einem verheirateten Elternpaar ausgedrückt. Der Priester hat dort keine Leitungsrechte. Das zeigt sich auch daran, dass in der Vertretung der Gemeinschaft im Generalpräsidium der priesterliche Assistent keinen Sitz hat. Etwas Ähnliches haben wir beim Säkularinstitut der Marienbrüder. Auch dort nimmt die "Vaterstelle" nicht der Priester ein, sondern einer der laikalen Brüder. Und ebenso die Vertretung im Generalpräsidium. Der Priester ist auch dort "nur" (priesterlicher) Assistent. Solches gibt es natürlich auch schon in der Tradition, wo eine Generaloberin (oder Äbtissin) in entsprechenden Frauenverbänden die Leitung inne hatte und nicht der Priester, der selbstverständlich wichtig war in seiner Funktion als Priester.

So sollen also die meisten der folgenden Aussagen von allen Christen und Christinnen ebenso gelten wie vom Priester, auch wenn ich - entsprechend meinem Thema - nur den Priester nenne. Vor allem sollen sie von jenen gelten, die ehrenamtlich oder hauptamtlich in der Kirche tätig sind. Und entsprechend von solchen, die in der zivilen Gesellschaft zum Wohl ihrer Mitmenschen aus religiösen Gründen tätig sind.

In Vielem steht also der Priester nicht "über", sondern "neben" oder auch "unter" dem "Laien", der ähnliche Aufgaben hat. Dort entscheidet dann nicht das Amt, sondern die Kompetenz. Auf jeden Fall bleibt der Priester auch nach der Weihe "Laie" (Christ) und (hoffentlich) auch Mensch. Doch wird das spezifisch Priesterliche, die Weihe, den einzelnen Aspekten seines Tuns dann doch auch wieder ein besonderes Gepräge geben. Dies gilt auch von der gottgeweihten Ehelosigkeit des Priesters. Aber auch von der gottweihten Ehelichkeit vieler Christen.

Insgesamt haben wir es heute und bei Joseph Kentenich mit einer "kollegialeren" Auffassung des Priestertums zu tun, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Ich beginne meine Darlegungen deshalb auch nicht beim character sacerdotalis indelebilis des Priesters und seiner daraus resultierenden speziellen Christuszugehörigkeit.4 Auch der Laie hat ja durch Taufe und Firmung ein unauslöschliches Merkmal in seiner Seele, wie es die herkömmliche Sakramententheologie formuliert.

Wie viele Priester pro Christ braucht es also? Da haben wir in Deutschland, entgegen unserer allgemeinen Wahrnehmung, im weltkirchlichen Vergleich eigentlich eine besonders gute Proportion. Ich denke auch, dass die Gemeindereformen extrem, sehr extrem, einseitig priesterzentriert gedacht und durchgeführt wurden.

2 Prophetischer Deutedienst5

Dem "prophetischen" Priestertyp geht es schwerpunktmäßig um den Gott des Lebens. Um die Auslegung der Heiligen Schrift des Lebens. Um den lebendigen Glauben, dem Beginn aller Rechtfertigung, aber auch dem Beginn allen Gottesdienstbesuchs und Sakramentsgeschehens. Gott ins Gespräch bringen. Mit den Menschen Gott suchen und finden, in den Menschen Gott suchen und finden. Der Priester kommt von Gott. Redet nicht nur über Gott, sondern auch zu Gott und hört Gott und lehrt dies. Er glaube, vor allem anderen, an die wirkende Realität Gottes im Leben, ist im Glauben tief verwurzelt. So kann Kentenich von sich sagen:

"Paulus kannte auf der Höhe seines Lebens nur eine einzige Leidenschaft: Gott und die Seelen. Etwas von dieser Leidenschaft ist auch mir geschenkt worden."6

Der Priester ist ein Mann mit einem besonderen religiösen Talent. Der auch persönlich Zeit für Gott hat. Dies wird als erstes von ihm erwartet. Auch und gerade in unserer Gesellschaft. Er ist fähig, die Gegenwart Gottes auch noch im Versagen zu zeigen. Er hilft beim Deuten. Er gehört zu denen, die das Leben religiös zu deuten verstehen.

Nicht einmal so sehr Sakramentales und Liturgisches sind das Wichtigste. Wichtig ist der Gott des Lebens und der Geschichte. Und der Gott im Innern des Menschen, der Gott des Herzens. Pater Kentenich weist immer wieder darauf hin, dass seine Sendung es ist, den Gott des Lebens und der Geschichte in Verbindung mit dem Gott des Herzens zu künden. Der Gott der Altäre rückt an die zweite Stelle. Er ist sich nur zu bewusst, dass der Mensch nicht liturgie- und sakramentsfähig ist, wenn ihm die Begegnung mit dem lebendigen Gott nicht gelingt. Oder richtiger, wenn er Gott nicht als lebendig handelnden vor allem Gottesdienstbesuch in seinem Leben erfahren kann. Also ein Priesterbild, das weit davon entfernt ist sakramentalistisch oder liturgistisch zu sein. Auch und gerade den hier beschriebenen Dienst teilt der Priester mit anderen, amtlichen wie nicht amtlichen.

"Seit ich mit Ihnen rede, rede ich mit dem lieben Gott", sagt Pater Kentenich bei Gelegenheit. Gott erleben, ihm begegnen nicht im Menschen als solchem, sondern in der Begegnung mit dem konkreten Menschen, im Aufnehmen seiner Geschichte, seiner Anliegen, eben dessen, was Gott in seiner Seele und durch diese anregt. Dort sich von Gott, im Menschen, angeblickt und angesprochen erleben. Doch dafür ist wichtig, dass seine Seele nicht nur nicht ignoriert wird bzw. verstummt, sondern dass sie sich aufs Höchste in ihrer Eigenwertigkeit entfalten darf und aufs Ehrfürchtigste und Interessierteste in dieser wahrgenommen wird. Nur so können auch die Stellen in den Lebensvorgängen der Seele wahrgenommen werden, in denen Gott nicht nur allgemein als Schöpfergott präsent ist, sondern auch als geschichtlich-personal-immer-neu-gegenwärtiger, sprechender und handelnder gefunden und als Gesprächspartner wahrgenommen werden kann. Es sind die Stellen, die man als göttlich bezeichnen kann, an denen Gott direkt mich ansieht. Leib-seelische Begegnungsspiritualität will ich es nennen.

Und anknüpfend an die Emaus-Perikope (Lk 24, 13-35): In der nachträglichen Meditation über Aspekte des gemeinsamen Weges kann es immer wieder geschehen, dass man sagen kann: Es war Gott, der Gott-Mensch, das Menschliche mit einer geradezu göttlichen Qualität. Oft, und im Maß ich dies in der Meditation übe und dies allmählich zu einer Grundhaltung wird, wird es mehr und mehr auch sehr unmittelbar und spontan geschehen, dass ich die Berührung Gottes oder seinen Blick selbst spüre. Aber auch jedes Gebet wird sich assoziativ mit menschlichen Situationen verbinden.

So wird jede seelische Menschenbegegnung zur Gottesbegegnung, und wird dadurch noch tiefer und schöner. Aber auch das Schwierige in der Begegnung ist Gottesbegegnung. Gott ist auch der immer wieder sehr geheimnisvolle Gott für uns Menschen. Wie auch wir Menschen uns Geheimnis sind und bleiben und es sogar immer mehr werden. Im Gebet kann ich direkt mit Gott sprechen. Ich kann aber auch einfach mit dem Menschen, den Gott mir schickt, innerlich sprechen und dabei spüren, dass mehr im Spiel ist als nur Menschliches. Wir sind in allem ins Göttliche hineingestellt. Alles ist auch Gebet.

Die Begegnung mit dem Allerpersönlichsten, in sich wie im Mitmenschen, ist also immer auch Gottesbegegnung. Ist ein Gott-ins-Antlitz-Sehen. In die Gefühle Gottes hineinsehen und diese sehr unmittelbar spüren. Ja, Gott hat Gefühle. Er ist nicht einfach Geist. Gerade uns Christen ist das Wissen und die Information anvertraut, dass Gott Mensch geworden ist und es bleibend ist. Die Menschwerdung Gottes wird erfahrbar, wenn das ganz persönlich Menschliche in jemandem aufleuchtet. Der Mensch berührt an einer solchen Stelle die Seele Gottes, tut einen Blick in die Seele Gottes. Und es ist eine Berührung des Menschen durch Gott und ein von ihm Angeblickt-werden, direkt in die Seele hinein, ins Allerpersönlichste. Die Menschen werden Gott besonders ähnlich, wenn etwas von der Gottesaussage Wirklichkeit wird, dass er mir innerlicher und näher ist, als ich mir selbst innerlich und nahe bin. Wenn das durch einen Menschen in einem Menschen geschieht, dann hat sich Gott geoffenbart.

Damit nimmt der Priester in hohem Maß am Pilgersein der menschlichen Existenz teil und wird selbst zum Pilger, so wie Jesus und Paulus Pilger waren.

3 Mit Menschen unterwegs sein

Mitchrist- und Mitmenschsein. Ganz im Sinn eines heute viel zitierten Augustinus-Wortes können wir sagen: Für Euch bin ich der Priester. Das ängstigt mich eher wegen der damit verbundenen Verantwortung. Mit Euch bin ich Christ. Das ist mein eigentlicher Ehrentitel. Das bedeutet erst einmal Brudersein und zunächst einmal das Wort Jesu beherzigen: Nennt niemand "Vater" oder "Lehrer" (Mt 23, 10). Oft sprach Kentenich davon, dass wir Priester "herab vom Thron" sollen. Und dass wir erst einmal alle gleich sind. Das bedeutet Wir-Gefühl und Solidarität. In diesem Sinn haben sich die Foccolare-Priester vom Papst die Erlaubnis geben lassen, dass sie vor allem bei den großen Versammlungen in Zivil dabei sein dürfen, damit die grundlegende Einheit nicht durch eine Amtstracht verdunkelt wird. Auch haben alle Ordensgemeinschaften der Vergangenheit erst einmal sich als (Laien-)Brüder erlebt und nur zum eigenen "Gebrauch" Priester weihen lassen. Das macht noch heute ganz besonders das Opus Dei.

Partei ergreifen für den Menschen und das Menschliche, vor aller religiösen oder moralischen Beurteilung oder Parteinahme. Pater Kentenich hatte im KZ beste Beziehungen zu sehr klerikerfeindlichen Kommunisten. Er sah in ihnen eben erst einmal den Menschen. Das hat diese für ihn voreingenommen und aufgeschlossen.

"Und da ist halt wohl ein neues Menschenbild nötig. Ein Menschenbild, das sich in schlichter Weise ehrfürchtig vor jedem Menschen beugt und seiner Auffassung."7

Die "Evangelisierung", besser eigentlich Missionierung oder noch besser das "Ins- Gespräch-Bringen der eigenen Glaubensüberzeugung" geschieht im Modus des Menschseins und der Menschlichkeit, der Anerkennung des Menschseins im Gegenüber. "Der Weg der Kirche ist der Mensch" ist eines der Leitworte Johannes Pauls II. Nicht nur Glaube an Gott ist wichtig, auch der Glaube an den Menschen.

Das bedeutet: gerne unter den Menschen sein und bedeutet Fähigkeit zum Dabeisein. Dabeisein und mit möglichst vielen der Leute reden ist die eigentliche und eine der elementarsten Artikulierungen dessen, was Pater Kentenich auch manchmal geistliche Vaterschaft nennt. Das heißt konkret, die Feste der Menschen möglichst mitfeiern. Und mit möglichst vielen sprechen. Meister des small talks sein. Leicht wird dies als vertane Zeit angesehen. Doch dort erleben die Menschen den Priester, den sie sonst nur in der Liturgie sehen oder bei amtlichen Verrichtungen. Sie erleben ihn als jemand, der mit ihnen spricht, zuhört, sich interessiert, als jemanden, der Mensch ist.

Wichtig ist die Namen zu kennen, auch und gerade die der Kinder. Alle Menschen zu begrüßen, zuerst grüßen, speziell auch die Kinder begrüßen. Sie werden tatsächlich oft einfach übersehen. Sich von jedem verabschieden, lieber dreimal als gar nicht. Alles Kurzbegegnungen, die Symbolhandlungen sind für den, an dem sie geschehen und für die, die dies beobachten. Und es wird beobachtet.8

An Kentenich können wir auch ablesen und es in seiner Lehre vorfinden, dass es wichtig ist, den Menschen in solchen Situationen und überhaupt positiv zu begegnen. Persönliche Lebenssituationen deuten helfen, das Positive darin sehen, sie regelrecht umdeuten. Dies habe ich besonders nachdrücklich in meinen Begegnungen mit Pater Kentenich erlebt. Nicht die Chance nützen, die Menschen darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich auch wieder einmal zum Gottesdienst kommen könnten. Dies auch nicht in der überfüllten Kirche an Weihnachten. Es stimmt ja gar nicht, dass die Menschen nicht zur Kirche kommen. Nur ist es oft so, dass sie kommen und dann nicht willkommen sind (Beerdigungen, Hochzeiten). Gerade bei solchen Anlässen im Priester einem Menschen begegnen, der in guter Weise Mensch ist, Mitmensch. Einem Menschen, der sie aufnehmen kann, willkommen heißen kann, sich in einer Art "Einfalt des Herzens" (Apg 2, 46 ) freut, dass sie da sind, und der ihnen dafür dankt.

"Fühlung halten". "Tag und Nacht lebte ich in den Seelen". Das ist nicht das Gleiche wie "Geistliche Begleitung". Der Begriff "Fühlung" spielt im Vokabular Pater Kentenichs eine überragende Rolle. Es ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Vorgänge seelischen und religiösen Lebens seelisch und religiös eigenständiger Menschen zu entdecken und auf sie zu achten und diesen selbstlos zu dienen. Das bedeutet Sinn für entstehendes Leben und wachsendes Leben. Das biblische Gleichnis vom aufgehenden und wachsenden Samenkorn kann neu entdeckt werden.

"Lebendige Fühlung halten. Das heißt also nicht intellektuelle Fühlung halten. Das heißt auch nicht triebmäßige Fühlung halten. Das heißt auch nicht herzmäßige Fühlung halten. Doch das heißt das alles, aber alles zusammen. Worauf es aber in besonderer Weise ankommt: auf die lebendige Fühlung. Leben, wirkliches Leben."9

Das bedeutet mehr als Gespräch allein und gleichzeitig weniger. Es ist eine große Offenheit und Durchlässigkeit zwischen Menschen, die sich nahegekommen sind. Durch seine große Nähe weiß der Priester nicht nur, was vor sich geht. Er spürt es, lebt es. Dabei wird es je nach Gemeinschaft sich mehr um seelisches Leben, um ideelles Leben, um aufgabenbezogenes Leben... handeln. Nähe wagen. Nähe zulassen. Seelische Nähe. Sich seelisch berühren ist oft Sache eines nur ganz kurzen Augenblicks. Die Nachwirkung kann allerdings sehr lange dauern und wirken. Die seelische Annäherung bemerken, sie wahrnehmen. Es geschehen lassen, es zu deuten wissen. Ebenso die seelische Regung in sich selbst bemerken, sie zulassen.

Das bedeutet, das Positive in sich wie im Gegenüber bemerken, wahrnehmen, formulieren, aussprechen. Aber noch mehr als dieses, die Gedanken, Wünsche, Lieblingsvorstellungen, Ängste wahrnehmen und anerkennen. Das Positive heraushören. Emporbildendes Verstehen.10 Hier findet die eigentliche Bewertung statt, die Begegnung mit dem Wert des anderen. Solche Vorgänge werden meistens nur indirekt formuliert. Diese indirekte Sprache lernen. An den Augen ablesen. Das Nicht-Gesagte verstehen. Viele Sprachen verstehen: die Sprache des Schmollens, der geistigen Abwesenheit, der unbeteiligten Zustimmung, des Meckerns und Quängelns, des Müdeseins, der Wortlosigkeit, der Symbolhandlungen, der Körpersprache, vor allem die Sprache des Nicht-Gesagten.

Das bedeutet zuhören können. Zuhören kann bedeuten: zumachen. Es kann auch bedeuten: zu Ende hören. Das bedeutet, etwas stehen lassen können. Bedeutet auch nachzufragen. Nicht schnell antworten. Nicht diskutieren. Sich nicht angegriffen fühlen und sich verteidigen. Nicht das Gegenüber erziehen wollen. Pater Kentenich hat für solches jeweils ausdrücklich sich Erlaubnis geben lassen. In einem Gespräch über jemanden, der es ausgezeichnet versteht, gute und wohlwollende Atmosphäre zu schaffen, sagte jemand: Das ist jemand, der einfach etwas länger wartet als andere, bis er etwas sagt. Darin ist alle Weisheit für den hier gemeinten Vorgang ausgedrückt. Es lohnt sich, ein Leben lang speziell auf diese Stelle zu achten. Ein weiteres Wort für den hier gemeinten Vorgang ist Vornehmheit. Sich selbst vornehm begegnen, wie auch den Mitmenschen, gerade auch den am nächsten Stehenden.

Es geht um eine Kultur der Seele. Eine Kultur der Nähe, eine Kultur der seelischen Nähe. Das hier Dargelegte bedeutet ein sehr subtiles Spiel von Nähe und Distanz, der Frau gegenüber, auch Männern und vor allem Kindern und (männlichen wie weiblichen) Jugendlichen gegenüber. Menschsein heißt ja auch Mannsein und Frausein. Da hat Pater Kentenich dem Priester immer wieder gelehrt, dass er seelisch innerlich umso mehr Nähe zulassen kann, je klarer die äußeren Zeichen sagen, dass es nicht erotisch oder sexuell missverstanden werden kann. Die Sehnsucht vieler Frauen an dieser Stelle, einem Mann begegnen zu dürfen, der ihr Nähe schenkt und gleichzeitig, vor allem durch sein Verhalten, glaubhaft macht: Da brauche ich nichts zu fürchten, auch nicht meine eigenen Gefühle. Unbefangenheit übertragen. Gerade das habe ich bei Pater Kentenich besonders stark erlebt und von anderen über ihn gehört. Also auch dies ein Aspekt seines Priesterbildes.

Konkrete wichtige Verhaltensregeln sind: Nicht in Antwort-auf-alles-haben-Schema fallen. Nicht Ja-aber-Reaktionen. Stehen lassen können. Keine Angst haben, dass mir etwas aus den Händen gleitet, wenn ich es stehen lasse. Kultur der positiven zustimmenden Erstreaktion. Sofort geistesgegenwärtig erst einmal positiv-annehmend reagieren. In Versammlungen dabeisitzen und nichts sagen. Vergleiche die Verhaltensweise J. Kentenichs im Studienheim und bei den von ihm gegründeten Gemeinschaften. Bei diesen saß er oft stundenlang einfach dabei und hörte sich die Kursleben-Geschichte an. Speziell der Priester hat ja sowieso viele Möglichkeiten, wo sein Rederecht gesichert ist. Wenn er dann redet, darf er das, was er sagen will, allerdings nicht aus einem Bibel-Kommentar oder einem Predigtbuch abschreiben. Und wenn eine Pause entsteht, darf er mit Sicherheit wissen, dass er jetzt nichts sagen darf. Es ist der Moment, wo auch etwas schüchterne Leute etwas sagen können. Dem Gott des Lebens auch hier trauen. Er hat die anderen ja auch in der Hand, nicht nur mich. Das bedeutet ein ganz neues Lebensgefühl des Seelsorgers. Die Frage ist dann nicht zunächst: Wie kriege ich etwas in den Griff? Oder wie sage ich es meinem Kinde? Oder welcher Inhalt ist auch noch darzulegen? Sondern viel eher: Wie klinke ich mich ein?

Zirkulation des Lebens: "bis es fließt". Seelisch berühren und berührt werden und wieder berühren bedeutet Begegnung in der persönlichsten und privatesten Sphäre. Der Kontakt der eigenen Seele mit der Seele eines Mitmenschen und dann wieder mit der Reaktion auf diesen Kontakt führt zur Vereinigung, zur Verschmelzung der Seelen, vielleicht für einen kurzen Augenblick. Aber, wenn es echt und stimmig ist, nicht überzogen und künstlich, mit einem wunderbaren Nachgeschmack. Es fließt gleichermaßen Strom, der Licht und Wärme bedeutet. Ein Energiefluss kommt zustande. Die Frage: Hast Du mich berührt? kann immer wieder ein Wunder hervorbringen, wie bei der Begegnung Jesu mit der Frau, die seit Jahren an Blutfluss litt (Mt 9,20). So ist Seelsorge nicht einfach Berufsausübung. Nicht ein professionelles Von-außen-Kommen. Sie ist: In einem Lebensstrom stehen.

"Gegenseitige lebendige Fühlung halten. Das ist zunächst etwas ganz anderes als Idee. Hier geht es immer um Leben. (...) Leben geht von mir aus, trifft den einen oder anderen; aber greift das Leben auf, das im Einzelnen ist; nimmt das Leben mit. Der Strom wird weitergeleitet, weiter, weiter, weitergeleitet, kommt dann wieder zurück, ist gefüllt mit dem Gesamtleben dessen oder derer, die nun zur Familie gehören. So flutet ständig der einzige große Lebensstrom weiter..."11

Also Gegenseitigkeit. Besonders wichtig, nicht die Urheberschaft für dies oder jenes für sich reklamieren, auch wenn diese fälschlicherweise von anderen beansprucht wird. Das kann echte willentliche Aszese bedeuten. Denn solches schadet der Vitalität des gegenseitigen Verhältnisses meistens sehr nachhaltig. Und außerdem: Es ist ja doch bekannt, wer was eingebracht hat. Dies gilt auch für das Verhältnis von Eltern und Kindern in der Familie. Die Kinder verdanken alles den Eltern. Ja. Nein. Wenn man das Leid von Ehepaaren erfährt, die keine Kindern haben können, dann merkt man erst so richtig, wie viel Kinder den Eltern an Sinnstiftung, ständiger Erneuerung und Leben schenken.

Es gilt, praktisch die Kategorien aller Haltungen und Denkweisen umzuschreiben. Die menschlichen Beziehungen werden doch im Grunde genommen nach wie vor sehr einseitig in Kategorien der Über- und Unterordnung und der Abhängigkeit gedacht und empfunden. Es gilt, sie in die Kategorie der Beider- und Gegenseitigkeit umzuschreiben. So wird "Bund" zum Paradigma, das alles verändert, weil die Sichtweise sich verändert. Solches will eingeübt werden. Auch dadurch, dass ich meditierend immer wieder meine Haltungen mit der hier formulierten Frage durchgehe und überprüfe.

Bindender und gebundener personaler Seelsorger12. Aus Fühlungsnahme entsteht mit der Zeit seelische Bindung. Dies spielt in der kentenichschen Vorstellung vom Priester eine besonders wichtige Rolle. Auch in seinem Kirchenbild. Das zu beschreiben ist das heutige Wort "Netzwerkarbeit" besonders geeignet.13 Ein Netzwerk herstellen, in dem es ganz viele Fäden gibt. Einem solchen Netzwerk dienen. Einem schon bestehenden Netzwerk sich sensibel ein-vernetzen. Dafür bei Pater Kentenich vielfach der Ausdruck "Organismus" oder "Lebensgebilde". "Ich habe ein Lebensgebilde geschaffen", sagt Pater Kentenich zusammenfassend gegen Ende seines Lebens14. Zu sehr haben uns Pädagogik und Psychologie gelehrt: Sich nicht binden.

Der Pfarrer wird es in einem überschaubaren Territorium entsprechend tun. Die größer werdenden Pfarrgebilde sind dafür eigentlich besonders geeignet und legen dies nahe. Denn in einem solchen sind Bindungen nicht so sehr vorgegeben, sondern entstehen sehr viel mehr "künstlich". Der mehr in der "außerordentlichen" Seelsorge Tätige, wie ja Pater Kentenich dies ein Leben lang war, wird es auf andere Weise tun. Doch beiden ist das Ideal der Netzwerkarbeit gemeinsam.

Diese bedeutet nicht, permanent im Sprechzimmer zu sitzen. Es geht hier nicht um Geistliche Begleitungsverhältnisse, die der Priester rein von der Zeit her nicht leisten kann. Doch das eine oder andere Verhältnis sollte er haben, um zu wissen, wie so etwas ist, wie die Qualität des Menschseins ist, wenn er sich auf so etwas einlässt.

Kentenich kann von sich sagen, dass er regelrecht in den Seelen der Menschen gelebt hat. Es ist ein "durch kleinste Kleinarbeit gekennzeichneter Weg". Und: "Wenn ich spreche, habe ich immer die Menschen vor mir und in mir."15 "So entstand fast über Nacht hüben und drüben eine wundersam öffnende und geöffnete seelische Nähe, die als vorzügliche Vorbedingung für gegenseitige Lebensübertragung angesprochen werden darf."16 "Ich habe ja in meinem Leben überhaupt nichts anderes getan als mit meinen Leuten zusammengelebt. Gar nichts."17 Und das Ziel ist: "Damit diese feinsten inneren, seelischen Verbindungen geknüpft werden können."18 Wer Pater Kentenich in Milwaukee erleben durfte, hat ihn vor allem als geistlichen Begleiter erlebt, der unendlich viel Zeit zu haben schien für jeden einzelnen. Ich selbst durfte sehr viele Stunden privat mit ihm reden. Immer ging es dabei um mich.19 Das haben auch andere so erlebt.20

Mit Liebe umgehen lernen. Besonders häufig hat Pater Kentenich darauf hingewiesen, dass es mitunter schwieriger sein kann, Liebe anzunehmen als Liebe zu schenken. "Er hat unsere Liebe angenommen" kann man von Menschen schon mal hören, vor allem von Frauen, die lange mit Pater Kentenich zusammengearbeitet haben. Die Menschen wollen vom Priester geliebt sein. Kein Mensch in der Gesellschaft wird von so vielen Menschen geliebt wie der Priester. Und von niemandem wollen so viele Menschen geliebt, geschätzt, angenommen werden wie vom Priester. Und der Priester weiß dies meistens überhaupt nicht. Kann auch nicht damit umgehen. An dieser Stelle entstehen auch besonders viele Verletzungen und Enttäuschungen an "der" Kirche.

4 Umgehen mit Freiheit und Selbstständigkeit

Der neue Umgangsstil bedeutet, die Menschen in ihrer auch religiös-kirchlichen Freiheit ernst zu nehmen, Selbstständigkeit anerkennen, bestätigen und fördern. Bedeutet, Menschen, die sich einbringen wollen aufmerksam ernst zu nehmen. Bedeutet, auch mit Widerspruch gut umgehen zu können. Schon früh spricht Pater Kentenich von Laienrechten.21

Ein besonders interessantes Dokument ist ein Brief, den J. Kentenich an eine Gruppe seiner Schüler, die zum Militär eingezogen worden waren, in die Kaserne nach Hagenau schickt. Der Ortspfarrer hatte auf deren Wunsch hin sich ihrer angenommen und hält ihnen Vorträge, die sehr gut ankommen. Und doch ist Kentenich, der mit ihnen in sehr regem Briefverkehr steht, nicht so ohne weiteres damit einverstanden.

"Es ist gewiss anerkennenswert, dass der Herr Pfarrer Euch eigens Vorträge hält. Aber- Eure Aktivität wird dadurch nicht angereizt. Das ist ein sehr, sehr großer Nachteil und gewiss auch ein Grund, weshalb ihr Euch nicht tiefinnerlich nahekommt. Der Herr Pfarrer erreicht somit das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt. Er zerstört mehr als er nützt."22

Und anfangs der zwanziger Jahre schreibt er einer Gruppe des entstehenden Apostolischen Bundes, wie Schönstatt in jenen Jahren hieß:

"Die ganze Bewegung ist nun einmal Ihr Werk und muss es bleiben. Ich kann und will Ihnen nur mit Rat und Tat zur Seite stehen. Darum habe ich mich bisher so sehr zurückgehalten, bin nicht einmal auf dem Sodalentag in Hörde erschienen. Wären sie so voll und ganz von dem Gefühl der Verantwortung für Ihre Gruppe durchdrungen, wie es die Führer unserer congregatio militaris waren, so könnte ich mich mehr an der Arbeit beteiligen, ohne fürchten zu müssen, dadurch Ihre Selbstständigkeit und Ihr Verantwortlichkeitsgefühl zu lähmen. Möge der Zeitpunkt bald kommen."23

Leitmotivisch sagt Pater Kentenich in den Exerzitien für Bundespriester 1967 immer wieder neu: Das geht natürlich nur, wenn Sie Freiheit lassen. Ohne diese verlieren die schönsten und richtigsten Dinge ihren Geschmack oder werden ganz schal. Es ist vor allem die Aufgabe des Mannes, die Freiheit im Blick zu haben und für sie Sorge zu tragen.

"Recht verstandene" Selbstlosigkeit heißt also nicht, sich tag- und nachtlang abrackern und alles schon immer zuerst und besser gemacht zu haben, bevor es die anderen, die es tun müssten und oft auch wollen, es tun können. Unterscheide einen ethischen und einen psychologischen Begriff der Selbstlosigkeit.

Zentral das Wort Partnerschaft. Partnerschaft ist eines der zentralen Worte unserer heutigen Kultur. Es bezeichnet das eben genannte bundesmäßige Verhalten. Ein wichtiger Aspekt im Priesterbild Pater Kentenichs ist die starke Anerkennung und Hervorhebung der Selbstständigkeit nicht nur der Menschen im allgemeinen, sondern gerade auch der Christen. Sein Priesterbild ist in hohem Maße ein partnerschaftlich-bundesmäßig gedachtes und gefühltes Priesterbild. Kentenich hatte nicht nur eine Sendung der geistigen Vaterschaft zu verwirklichen, sondern ebenso sehr eine der bundesmäßigen Partnerschaft.

Pater Kentenich hat oft darauf hingewiesen, dass es gilt, sich überflüssig zu machen, um nicht überflüssig zu sein. Wie ist dies, wenn solches nicht aus freier Initiative geschieht? Wenn Mitarbeiter oder wer auch immer zu Ebenbürtigkeit heranwachsen oder den Priester auf manchen Gebieten überflügeln? Echte Vaterschaft und Mutterschaft besteht vor allem auch darin, dass der "Vater" oder die "Mutter" nicht zu Konkurrenten werden.

Über den Vater bzw. die Mutter hinauswachsen. Im Verlauf des menschlichen Lebens holen die Kinder die Eltern immer mehr ein und überrunden sie sozusagen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt haben sie die Initiative und das Sagen. Ja die Eltern werden eventuell sogar schwach und hinfällig. Jetzt sind sie sozusagen die Kinder, auch wenn sie immer die Eltern bleiben, die entsprechend geachtet und geliebt werden.

5 Mensch sein und immer mehr werden

Der Priester ist Mensch unter Menschen. Priestersein im Modus des Menschseins. Nicht im Modus der Institution. Meine Begegnungen mit Pater Kentenich fasste ich u.a. in dem Satz zusammen: Er spielte keine Rolle. Nicht die Rolle des Lehrers oder Predigers oder Verwalters oder Organisators. Nicht einmal die Rolle des Priesters. Seine Rolle ist sein ganzheitliches Menschsein. Der Menschen-Mann in Entsprechung zum Gottesmann, der Menschensohn in Entsprechung zum Gottessohn.

Neben dem religiösen Talent hatte Pater Kentenich ein ausgesprochen menschliches Talent. Nicht die Institution, der Habit, das Amt wirkt bei ihm in erster Linie. Es ist die Kraft seiner Persönlichkeit. Nicht so sehr die amtliche Kompetenz und "Intelligenz" ist gefragt, vielmehr die seelisch-geistige und emotionale Kompetenz und "Intelligenz". Und damit die soziale menschenbezogene Kompetenz. In der Weise des Menschseins, des vollen Menschseins seinem religiösen Auftrag oder auch Amt nachkommen. Ein religiös-menschlicher Auftrag. Pater Kentenich musste dies in einer mehrjährigen Krise während seiner Noviziats- und Seminaristenzeit lernen. Und er hat das damals Erfahrene als Lehre in sein Priesterleben hineingenommen und es nie wieder vergessen. Seine Krise bestand in einer einseitigen Übernatürlichkeit, Geistigkeit, Abkapselung von anderen und seelischer Berührungsängsten (Individualismus). Er schreibt später (1955), dass der Grund dafür die "Lösung meines Geistes und meiner Seele vom Erdhaften, vom echt Menschlichen und Diesseitigen"24 war. Und entsprechend hat er in dieser Diagnose seine Lebensaufgabe erkannt. Selbst nicht nur fromm und übernatürlich, nicht nur gelehrt und prinzipientreu zu sein, sondern mehr und mehr voller Mensch zu werden und andere zu dem Ziel des vollen Menschseins zu führen. "Erst Mensch, dann Christ, dann ganzer Mensch" konnte Pater Kentenich in seiner pointierten Sprache vielfach sagen. Die Gefahr des Gott geweihten Menschen, ob Mann oder Frau, ist die zu geringe Entfaltung des Erdhaften, echt Menschlichen und Diesseitigen. Da muss vor allem der Priester aufpassen, weil er entsprechende Defizienzen hinter seinem Amt nur allzu gut verstecken kann.

Hier liegt auch und gerade eine Chance des älteren Priesters. Auch Kentenich ist nach der Richtung mehr und mehr gewachsen. Die ihm in den letzten Jahren seines Lebens begegnet sind, und ich durfte ihm sehr ausführlich begegnen, haben gerade seine Menschlichkeit erlebt, die in einem die große Sehnsucht geweckt hat, selbst mehr Mensch zu sein. Und vielfach hat er dieses sein Menschsein einfach auf andere übertragen.

Das bedeutet menschlich ausgereift sein, bedeutet Integration der affektiven Schichten und ganzheitlich-menschlichen Dimensionen der Person. Freiheit der Kinder Gottes ist das pädagogische Ziel Pater Kentenichs. Im Kontakt stehen mit seinen seelischen Bedürfnissen. Selbstkongruenz. Sich getrauen, selbst zu sein. In Demut und Spontaneität sich selbst gegenüber. Mit Autoritätskomplexen "fertig" sein bzw. sie durchschauen. Die Sexualität integrieren, integriert haben, bzw. wissen, wie es steht. Nicht verbraucht sein, nicht verbittert. Etwas spielerisch Leichtes ausstrahlen. Mehr und mehr Mensch werden. Diejenigen, die Pater Kentenich vor seiner Verbannung kannten und ihn erst wieder nach vierzehn Jahren sahen, waren vielfach überrascht, wie stark er jetzt als Mensch empfunden wurde. Ein besonders schönes Zeugnis dafür ist ein Vortrag, den er 1966 einer Gruppe von Schönstatt-Ehepaaren gehalten hat.25

Besonders wichtig angesichts der hier genannten großen Ziele ist die oft und oft vorgetragene Lehre Kentenichs, wie mit den eigenen Schwächen umzugehen ist, wie sie genützt werden können für die authentische Demut und Kindlichkeit und für die Vertiefung des Gottesverhältnisses.26 Was vom Umgang mit den eigenen Schwächen gilt, gilt natürlich auch vom Umgang mit fremden Schwächen. Hinter der Fassade des Rigorismus verbirgt sich oft ein leicht zu entlarvender "Pharisäer", ein zensurierendes Priesterbild. Man verzeiht dem Priester vieles, sehr vieles. Man tut dies aber leichter, wenn er seine Schwächen auch zugibt und nicht meint, er müsse seine Autorität dadurch schützen, dass er sich keine Fehler leisten kann und deswegen keine zugeben kann.

Der Priester, der in seiner Seele und seinem Leib ruht und zu Hause ist, kann und darf sich auch seelisch immer wieder zu erkennen geben. So will ich es nennen. Ob dem Priester das, was er sagt, etwas bedeutet bzw. ob er auch ohne Priester zu sein, religiös wäre, wollen die Leute oft gerne wissen. Etwas in sein Herz blicken lassen sollte er auf jeden Fall. So heißt es von einem Priester: Der Mann macht alles richtig, kennt alle Namen. Aber er guckt niemand an, lacht nicht. Er ist zu intelligent, um sich eine Blöße zu geben oder gar auf die Nase zu fallen. Seelische Spontaneität kann durch nichts ersetzt werden. Dabei braucht man natürlich nicht ständig von sich selbst zu reden.

Für all das ist wichtig, dass der Priester sich genügend Zeit für sich selbst nimmt und genügend ausgeruht ist.

6 Der Priester und die Frau

J. Kentenich hat immer wieder die Priester aufgefordert, auch die weibliche Dimension in sich zu entfalten. Und oft weist er auf Paulus hin, der nicht nur der vorwärtsdrängende Führer ist, sondern auch Geburtswehen leidet wie eine Mutter (Gal 4, 19). So sagt er zu einer Gruppe von Priesterstudenten in ihrer Vorbereitung auf das Priestertum: "Ungeteilte Hingabe an die Gefolgschaft. Sagen wir dafür: ausgesprochene Väterlichkeit, vereint mit Mütterlichkeit. (..) Ich müsste an sich, ideal gesprochen, Mann und Frau in mir vereinigen, doppelt wenn wir nicht heiraten."27

Diese Ergänzung bedeutet auch, dass der Priester fähig ist, speziell die Mitarbeiterinnen nicht als Konkurrentinnen zu empfinden und entsprechend zu "behandeln". Da gilt, was in der Naturfamilie gilt: Die Autorität des Vaters wächst in dem Maß, als er die Mutter ehrt. Nichts schadet dem Ansehen des Vaters in der Familie und der spontanen Liebe zu ihm so, als wenn er die Mutter nicht ehren kann. Umgekehrt gilt natürlich Ähnliches. Bei all dem wird auch deutlich, dass dies alles nur geschehen kann, wenn Freiheit vorhanden ist und die entsprechenden Haltungen nicht eingefordert oder als Verpflichtung auferlegt werden. Oder gar missbraucht werden. Wenn Freiheit fehlt, werden halt gerade die ganz großen Dinge des menschlichen Verhaltens besonders stark verdorben.

Es mag ein geheimnisvolles Misstrauen mancher Frauen dem zölibatär lebenden Priester gegenüber geben, ob er sie auch genügend unbefangen schätzen und mögen kann. Schließlich wurde die längste Zeit der Zölibatsgeschichte der Zölibat des Priesters weitgehend auf der Abwertung und der "Gefährlichkeit" der Frau aufgebaut und entsprechend begründet. Diese Zeit liegt noch nicht lange zurück. Auch ist die Lage in den verschiedenen Ländern an dieser Stelle recht unterschiedlich. Doch auch hier gilt, dass das, was in einer Zeit besonders stark ausgeprägt war, irgendwie immer in der Seele latent vorhanden ist, auch wenn es keine Rolle zu spielen scheint. Die Haltung des Verheirateten bzw. auf die Heirat zugehenden Mannes war in der Vergangenheit, und ist es vielfach auch heute, allerdings von ähnlichen Abwertungen geprägt. Dies in unserem Kulturkreis, wie auch, und oft sehr viel mehr noch, in anderen.

Auch hat der Priester in mehr oder weniger subtiler Weise vielfach eine etwas "machistische" Seelenstruktur, eine oft zu wenig feine und kultivierte Seele. Oft ist er seelisch zu grob, nicht nur in Einzelfällen, sondern als nicht durchschaute Grundhaltung. Vor allem überall dort, wo es um Persönliches geht. Der Gotteskämpfer, Verwalter, Organisator, Bauherr, Prediger, (wissenschaftlicher) Theologe, der einem Terminplan Nachhechtende ist nicht immer ein seelisch entfalteter Feinfühliger. Wichtig ist auch hier, immer wieder die eigene Sprache zu beobachten. Was sagen wir, wenn wir etwas als "typisch Frau" benennen? "Typisch" ist ja eigentlich immer ein abwertendes Wort, und im Zusammenhang mit der Frau und dem Weiblichen sogar besonders.

Mit der Öffnung des Priesters zum Weiblichen hängt auch zusammen die starke Betonung der Person der Gottesmutter, wie sie dem kentenichschen Priesterbild eigen ist. Kaum jemand hat wie Kentenich so viele Menschen in ihrem Inneren beobachten können und dort die äußerst heilsamen Wirkungen einer lebendigen Beziehung mit Maria. Die menschliche Seele, auch die des Priesters, öffnet sich sehr leicht dem Einfluss des Marianischen, wenn ihr der (theologische) Verstand dies nicht fraglich macht oder gar verbietet.28

7 "Eine Kraft strömte von ihm aus" (Mk 5,30)

Mit der größtmöglichen "Rechtlosigkeit" und institutionellen Ungesichertheit des Priesters hat Pater Kentenich die eigentliche Urform der evangelischen Auffassung von Macht aufgenommen. Die Urform der Macht im Volk Gottes, wie sie im Neuen Testament beschrieben ist und vor allem am Beispiel Jesu selbst sichtbar wird, betont wenig die institutionell gesicherte Macht. Ein Bischof, ein Pfarrer hat in der Gesellschaft und auch weitgehend in der Kirche heute keine eigentliche äußere Macht mehr.29 Er kann aber sehr viel Einfluss haben, wenn er sein Amt entsprechend ausfüllt.

Trotz aller äußeren Machtlosigkeit hat Jesus Macht. Er redet wie einer, der Macht hat, nicht wie die Schriftgelehrten und die Pharisäer, die viel äußere Macht hatten, aber wenig innere (vgl. Mk 1, 22). Es soll möglichst wenig äußere Macht geben, damit es umso mehr innere "Macht" gibt. Es soll erst gar nicht der Gedanke aufkommen, dass im geistigen und seelischen Bereich mit äußerer Macht viel auszurichten wäre. Es soll ganz auf geistige und seelische Kraft gesetzt werden.

Wer wirklich kompetent ist, wirklich Geist- und Lebensfülle hat, muss eher aufpassen, dass er nicht zu ernst genommen wird, als dass er sich um das andere sorgen müsste. Den Leuten soll ja nicht das Herz und der Kopf vollgestopft werden. Sie sollen ja nicht gegängelt werden. Es sollen nicht Situationen geschaffen werden, in denen schon gar niemand mehr auf den Gedanken kommt, dass er auch noch etwas zu sagen und mitzugestalten hat. Die einzelnen sollen sich selbst entfalten, das Ihre zum Ganzen beitragen und auch das Bewusstsein haben, dass sie das selbst tun und getan haben.

Was geschieht, wenn die Menschen, denen der Leitende dient, nicht dankbar sind, wenn sie es nicht zu schätzen wissen, was er dauernd für sie tut, ihn missverstehen? Hier ist der eigentliche Prüfstein für die wahren Intentionen eines Leitenden. Dann zieht der Leitende sich leicht zurück, beginnt zu "schmollen". Er lässt es die anderen "merken". Es gibt nicht nur das Schmollen der Kinder, sondern auch das der Väter und Mütter.

In dem, was man an (berechtigter) Zuwendung und Anerkennung eigentlich erwarten kann, muss der Leitende sehr frei und bedürfnislos werden. Ich will es affektive Anspruchslosigkeit nennen. Hier zeigt sich wieder neu, wie wichtig es ist, ein lebendiges Selbstwertgefühl zu haben und auch zu durchschauen, wenn man kompensiert. Es bedarf zeitenweise einer großen Fähigkeit, sich seelisch zu regenerieren. Diese affektive Anspruchslosigkeit kann sehr viel verlangen, wenn der Leitende, ähnlich wie Jesus "in die Hände der Menschen überliefert wird". Es gibt ein Geheimnis der Schwachheit und des Kreuzes in der Führung der Menschen. Dann sind die psychologischen Gesetze nur noch zum Teil gültig. Dann wird auf eine geheimnisvolle Weise das erlösende Kreuz Christi gegenwärtig.

8 Sich als Projektionsfläche zur Verfügung stellen30

Ein besonders wichtiger Zug im kentenichschen Priesterbild hat es mit der Einsicht zu tun, dass Autoritäten, vielfach ohne es zu wollen und zu wissen, als Väter bzw. Mütter angesehen werden, als Vergegenwärtigung, Belebung, Assoziationsfigur von Vater bzw. Mutter-Kind-Erfahrungen. Als Projektionsfläche. Nicht zu glauben. Da kann man noch so aufgeklärt, wenn nicht sogar abgebrüht sein. Ihr könnt noch so horizontalistisch tun. In vielfältigsten Formen drückt der hier genannte Sachverhalt doch wieder durch. Wir können hier von einem Skript oder Muster der Seele reden.

Eigentlich werden "kindgemäße" Erwartungen und Hoffnungen auf Autoritätsträger übertragen. Die Erwartung, ganz verstanden zu werden, ganz angenommen, berücksichtigt und geführt. Lauter Dinge, die das Kleinkind erwartet und geschenkt bekommt. Die dem Erwachsenen aber nur Gott schenken kann. Da ist etwas Endloses, nicht zu Erfüllendes, notwendigerweise immer wieder Enttäuschtes. Es ist eine Form des ewigen Heimwehs. Kind sein wollen und dürfen als Form des Geschöpfseins und des Gotteskindseins. Die Herkunft aus Vater und Mutter und die bleibende Grunderfahrung der Seele, Kind gewesen zu sein, wirken in der Seele als Grundbild der Herkunft aus Gott.

Speziell der Priester als geweihter Mann setzt durch sein Sein solche Assoziationen frei. Gerade seine Weihe suggeriert Gottähnlichkeit. Durch diese ist ein geradezu göttliches Versprechen gemacht, eine Verheißung gegeben. Die Gottgeweihtheit und "Gottähnlichkeit" des Priesters wird in beachtlichem Maß durch den Zölibat unterstrichen. Dieser macht ihn in einzigartiger Weise Jesus, dem Gottes-Sohn ähnlich. Hier also ein durchaus gültiges, nicht exklusives, Argument für den Zölibat.

Die Menschen nehmen den Priester "unerbittlich" als Jesus, als Darstellung Gottes. Als etwas Besonderes. Jedes Wort von ihm kann zählen. Die Menschen wollen speziell vom Priester gemocht sein. Und wollen ihn auch mögen dürfen. Umso wichtiger ist es, gerade damit umgehen zu können. Deswegen oft auch so große Enttäuschungen. Manchmal wegen Kleinigkeiten fühlen sich Menschen regelrecht ausgestoßen. Hierher gehört auch die viel gehörte Klage: Der Pfarrer ist nie da. Was läuft da ab? Wozu muss er da sein? Allem Anschein nach ist es ähnlich, wie wenn die Mutter in einer Familie mal weg ist und der von der Arbeit zurückkehrende Ehemann die anwesenden Kinder fragt: Ist niemand da? Bei solchen Aussagen kommt mir manchmal in den Sinn, dass der Kaiser in Japan in früheren Zeiten die Aufgabe hatte, wenigstens vier Stunden täglich unbeweglich auf seinem Thron zu sitzen, damit das Reich stabil ist. So ist es natürlich mit dem Priester nicht. Doch können wir im mythischen Denken in einer sehr akzentuierten Weise Dinge beobachten, die irgendwie zur menschlichen Seele gehören. So sagt man, dass der Verkehr in der Stadt Rom in den Tagen, in denen der Papst auswärts ist, unruhiger ist. Ein Rest Magie? Oder seelische Wirklichkeit? Die beiden Aspekte brauchen sich nicht auszuschließen. Wir Menschen sind halt nicht purer Geist. Darum geht es ja in diesem Beitrag.

Das Gesagte gilt ähnlich auch der Ordensfrau gegenüber, der speziell Gott geweihten Frau gegenüber. Auch Christen und Christinnen insgesamt gegenüber. Auch diese erwecken vielfach Hoffnungen und Erwartungen, die Göttliches assoziieren. Und damit Kindliches.

Es läuft also ein seelischer Prozess ab. Natürlich weitgehend unbewusst und vielfach vom Bewusstsein sogar geleugnet. Aber selbst dann. Das von Kentenich bearbeitete Vater- und Mutterthema soll dem Priester und Vertretern der Kirche insgesamt, ja jeglicher Autorität, auch der säkular-zivilen sagen: Rechnet mit Elementen eines kindlichen, sohnhaften oder tochterhaften Verhaltens und entfaltet in eurem Verhalten Elemente von Vater- und Mutterschaft. Verhaltet euch aber in der Praxis möglichst partnerschaftlich (brüderlich bzw. schwesterlich). Mehr als ein Ideal, das es anzustreben gilt, ist es ein Hinweis auf einen Prozess, der abläuft. Wisset darum! Dann könnt ihr ihn verstehen und auch irgendwie gestalten. Aber redet nicht davon. Fordert es auf keinen Fall ein.

Wir verstehen damit, warum Pater Kentenich, als Kurzfassung seines gelehrten und gelebten Priesterbildes, die Formulierung "priesterliche Vaterschaft" so wichtig war. Oder auch das biblische Bild "der gute Hirte". Dabei ist wichtig zu sehen, dass der Vater gleichzeitig auch Kind ist (puer et pater) und der gute Hirte gleichzeitig auch (gutes) Schaf.

Mit dem Hinweis auf Übertragungsvorgänge ist auch gesagt, dass es sich nicht um die Begegnung von zwei Seelen ohne alle Vorgeschichte handelt. Auf beiden Seiten werden auch Wunden übertragen und begegnen sich. In jedem Leben gibt es Wunden und Kratzer, die schlecht oder gar nicht verheilt sind. Dem begegnet man gerade in der seelisch sehr gelungenen Nähe und Begegnung. So gehört auch dazu, dass am Seelsorger oft auch persönliche Probleme abgearbeitet werden.

9 Der "sakramental" geweihte Mann Gottes31

Was unterscheidet den Priester? Alles bisher Gesagte kann und soll auch vom allgemeinen Priestertum verwirklicht werden. Unterscheiden tut den Priester seine Weihe. Die Weihe, die ihn befähigt, Eucharistie zu feiern, nicht nur "ihr vorzustehen". Das Brot und den Wein zu verwandeln. Das in einer besonderen Feier, im sakralen Raum, mit entsprechenden Gewändern. An dieser Stelle wird etwas sichtbar und erlebt, was allem anderen, was er auch ist und tut, einen besondern Glanz gibt. Der Archetyp Priester funktioniert nach wie vor, sagte neulich ein Pastoralreferent, der in der Priesterausbildung und -begleitung tätig ist. Und es ist in der menschlichen Seele ein "Archetyp" am Wirken. Dieser wirkt umso mehr, als der Priester in der in diesem Beitrag beschriebenen Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit seine Sendung als religiös-psychischer Deuter erfüllt. Und dies immer wieder in die Feier der Eucharistie einbringt. Das besondere Priestertum hängt ganz und gar am Eucharistieverständnis.

Aber insgesamt ist der geweihte Priester in einer besonderen Weise Stellvertreter der Menschen vor Gott. Von seinem Gebet und seinem Segen wird immer wieder besonders viel erwartet und erhofft. Das ist denn auch die Botschaft des hl. Pfarrers von Ars, der in diesem Jahr besonders ins Zentrum gerückt wird. So wird alles, was auch andere "können", beim Priester irgendwie sakral-sakramental erhöht und bekommt eine besondere, göttliche, Färbung und Dynamik.

Literatur

Peter Wolf (Hrsg.): Berufen-geweiht-gesandt. Ausgewählte Texte von P. Josef Kentenich über das Priestertum. Schönstatt-Verlag, Vallendar 2009

Joseph Kentenich: Der Priester als geistlicher Vater. Texte aus dem Milwaukee-Terziat 1963. Zusammengestellt von Herbert King. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Ders.: Aus den Menschen - für die Menschen. Predigten über das Priestertum. Patris Verlag, Vallendar 1970

Herbert King (Hrsg.): Joseph Kentenich - ein Durchblick in Texten, Band 5 (Pädagogische Texte). Patris Verlag, Vallendar 2005

Ders. (Hrsg.): Autorität/Leitungsstil/Gehorsam. In: Durchblick in Texten, Band 3, 129-214

Joseph Kentenich: Predigt zu seinem 25jährigen Priesterjubiläum. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Ders.: Wachwerden des Menschen in uns. =Ansprache vom 4. Juni 1966. In: Durchblick in Texten, Band 1 (In Freiheit ganz Mensch sein). Patris Verlag, Vallendar 1998, 212-228

Herbert King: Begegnungen mit Pater Kentenich in Milwaukee. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Ders.: Lebensvorgang seelische Vater- und Mutterschaft. In: Ders.: Gott des Lebens. Religiöse Spuren in seelischen Prozessen. Patris Verlag, Vallendar 2001, 267-297

Ders.: Seelsorge als Dienst am Leben aus der Sicht Joseph Kentenichs. Patris Verlag, Vallendar 2000

Ders.: Priesterbild und Priesterkrise im Denken und Handeln Pater Kentenichs. Referat am 3. September 1984 in Schönstatt-Marienau. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Ders.: Aspekte des priesterlichen Dienstes auf der Grundlage des "Schreibens der deutschen Bischöfe über den priesterlichen Dienst" vom 24.9.1992 auf dem Hintergrund von Sichtweisen Pater Kentenichs. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Ders.: "Kleine" pastorale Tugenden. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Ders.: Paulus als (väterlich-mütterlicher) Gründer von Gemeinden. In: www.herbert-king.de/Seelsorger

Pedro Gutérrez: Geistliche Vaterschaft nach Paulus. In: Regnum 3 (1968), 154-165

Herbert King: Artikel Gehorsam. In: Brantzen, King u.a.: Schönstatt-Lexikon. Patris Verlag, Vallendar 1996

Ders.: Leitungsstil nach Pater Joseph Kentenich. Demokratische und autoritätsmäßige Aspekte des Leitens. In: Manfred Gerwing/Herbert King (Hrsg.): Gruppe und Gemeinschaft. Prozess und Gestalt. Patris Verlag, Vallendar 1991, 226-287

Ders.: Kirche wohin? Patris Verlag, Vallendar 1991

Ders.: Gestaltwandel der Kirche. Patris Verlag, Vallendar 1994

Ders.: Bindungskultur. In: www.herbert-king.de/Seeslsorger

Peter Locher: Der geistliche Begleiter. Eine Ortsbestimmung - Ders.: Geistliche Führung heute. Eine Erfahrung Beide in: Josef-Kentenich-Institut (Hrs.): Wegbegleitung. Geistliche Führung zu mündigem Christsein. Patris Verlag 1987, 54-115

Günther Maria Boll: Erzieher im Glauben. Bemerkungen zur Diskussion um die Priesterbildung. In: Regnum 3 (1968) 147-153 und Regnum 4 (1969), 81-90

Anmerkungen

1 Herbert King: Freiheit und Verantwortung, Patris Verlag, Vallendar 2008, 159-182, besonders 172-174.

2 Herbert King: Kirche wohin? (Kirche als Familie und Bewegung), 13-20. Ders.: Gestaltwandel der Kirche, 40-45.

3 Ethos und Ideal (1931). Schönstatt-Verlag, Vallendar 1972, 171.

4 Besonders in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg setzt Pater Kentenich beim character indelebilis an. Dies bleibt natürlich gültig. Und spielt auch in diesem meinem Beitrag eine wichtige Rolle. Nur habe ich stärker den Ansatz beim Allgemeinen Priestertum gewählt.

5 Herbert King: Überlegungen zu einer Theologie der Erfahrung des Wirkens Gottes. In: Lebendiges Zeugnis 61 (2006), 36-42. Ders.: www.herbert-king.de/ "Gott begegnen". Hubertus Brantzen: Brannte nicht unser Herz? Patris Verlag, Vallendar 2001.

6 Studie 1960. Manuskriptdruck, 135.

7 Pater Kentenich 1964, zitiert in: Herbert King: Freiheit und Verantwortung., 132. Dort auch weitere Texte und Ausführungen zum Thema.

8 Herbert King: "Kleine" pastorale Tugenden. Siehe www.herbert-king.de. Link "Seelsorger".

9 Rom-Vorträge 1965, I, Manuskriptdruck, 25.

10 Durchblick in Texten, Band 5, 233-293 (Leitstern Vertrauenspädadogik).

11 Ausführlich ist dieser Vorgang (mit entsprechenden Kentenich-Zitaten) dargestellt in: Herbert King: Seelsorge als Dienst am Leben, 100-113.

12 Durchblick in Texten, Band 5, Text 2.13.

13 Herbert King: Paulus (väterlich-mütterlicher) Gründer von Gemeinden. In: www.herbert-king.de/Seelsorger. -  Ders.: Schönstatt als Bindungskultur. Referat beim Schönstatt-Kolloquium (1996), 34 Seiten. In: www.herbert-king.de/Seelsorger.

14 Herbert King: Seelsorge als Dienst am leben, 22.

15 An seine Pars motrix, 2 (1965). Manuskriptdruck, 223.

16 Studie 1960. Manuskriptdruck, 135.

17 An seine Pars motrix, 2 (1965), 227.

18 Ethos und Ideal in der Erziehung (1931), 123.

19 Herbert King: Ein Mensch, der innere Freiheit schenkt. Begegnungen mit Pater Kentenich in Milwaukee. In: www.herbert-king.de/Seelsorger.

20 Peter Locher: Der geistliche Begleiter. Eine Ortsbestimmung; Ders.: Geistliche Führung heute. Eine Erfahrung; Beide in: Josef-Kentenich-Institut (Hrsg.): Wegbegleitung. Geistliche Führung zu mündigem Christsein. Patris Verlag 1987, 54-115.

21 Freiheit und Verantwortung, 170-172.

22 Brief vom 2. März 1917. In: Josef Engling - Briefe und Tagebuchnotizen. Teil II. Zusammengestellt von Paul Hannappel, 95.

23 Zitiert ohne Angabe der Quelle in: Frömbgen: Neuer Mensch in neuer Gemeinschaft. Schönstatt-Verlag 1973, 70.

24 Zitiert und erklärt in: Herbert King: Der Mensch Joseph Kentenich. Patris Verlag, Vallendar 1996, 26.

25 Vortrag vom 4. Juni 1966. In: Durchblick in Texten, Band 1, 212-228.

26 Herbert King: Gott des Lebens, Patrs Verlag, Vallendar 2001, 86-126.

27 Vorträge 1963, 9, 86.

28 Herbert King: Neuentdeckung Marias. Patris Verlag, Vallendar 2006. Vergleiche das zu diesem Thema in anderen Beiträgen dieses Bandes Gesagte.

29 Zum Thema Macht in der Kirche und durch die Kirche: Herbert King: Gestaltwandel der Kirche, 25-37.

30 Herbert King: Gott des Lebens, 267-297.

31 Dazu Ausführliches in Pater Joseph Kentenich: Aus den Menschen - für die Menschen. Predigten über das Priestertum. Patris Verlag, Vallendar 1970

 
 

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